Das Dorf rüstet für sein 65. Erntefest. Es gilt als das größte in Norddeutschland. In diesem Jahr werden mindestens 8000 Gäste erwartet. Für sie und die Dorfbewohner ist das Ereignis längst Kult.
Scharmbeck Es dämmert in Scharmbeck. Doch aus den Toren der Scheunen und Hallen in dem 1500-Seelen-Ort dringt noch Licht. Nicht für Mähdrescher oder Treckergespanne. Denn Weizen, Hafer und Roggen sind seit ein paar Tagen eingefahren. Die abgestellten Anhänger dienen jetzt einem anderen Zweck. Auf ihnen haben Hobby-Bastler, die sich selbst Namen wie „Werners Weizen Designer“ oder „Scheunenhocker“ gegeben haben, ihre dekorativen Gebilde aus Holz, Pappmaché, Draht und Bauschaum aufgestellt. Der Clou: Alles wird von außen mit Ähren aus der Ernte beklebt. Das Dorf rüstet für sein 65. Erntefest. Es gilt als das größte in Norddeutschland. In diesem Jahr werden mindestens 8000 Gäste erwartet. Für sie und die Dorfbewohner ist das Ereignis längst Kult.
Mitten in einer Scheune im Dorf sitzt jetzt Bianca Ahlers. Sie hat die Seitenwand einer Mühle in der Hand und klebt Getreideähren um die ausgeschnittenen Fenster. In ihrer Gruppe, den Scheunenhockern, kennt man sich, seit alle noch zur Schule gingen. „Wir haben jetzt alle einen Beruf aber keiner von uns ist Handwerker“, ruft einer der Freunde über ihren Kopf hinweg und klebt rasch weiter. Im vergangenen Jahr haben die Scheunenhocker mit einer Szene aus dem schwedischen Kinderbuch „Pettersson und Findus“ auf ihrem Wagen den ersten Preis gewonnen. Jetzt rankt sich ihr Thema um die Ente Alfred J. Kwak aus einer Kindersendung, die in einem holländischen Holzschuh wohnt. Der Schuh wird gerade neben der Mühle bearbeitet. Die Ente, deren Bürzel noch unverkleidet ist, sitzt in einer Ecke.
Ahlers steht für ein Phänomen des Festes, für das feste Gruppen seit Jahrzehnten bauen. Junge Menschen wie die Scheunenhocker, die zwischen 20 und 25 Jahre alt sind oder das Hinterhof Bauteam, zu dem sich 16 Leute zwischen 40 und knapp 60 zusammengetan haben. berufs- und bildungsübergreifend aber allesamt mit einem ausgeprägtem Heimatgefühl, das sie verbindet.
Ahlers stellt in ihrer Familie sogar die dritte Generation der Wagenbauer. Denn ihr Großvater Willi Weselmann war einer der Begründer der Dorf-Tradition. Nach dem Krieg, man schrieb das Jahr 1949, überlegte er mit seinem Freund Otto Buschmann, ob man nicht gleich nach dem Abschluss der Ernte ein Fest feiern sollte. Die Idee zog und so wurde noch im selben Jahr, wenige Wochen vor dem ersten Fest, der Erntefestverein Scharmbeck gegründet. Seitdem findet der Umzug, für den alle im Dorf Urlaub nehmen, jeweils am ersten Sonntag im September statt.
„Das Fest ist inzwischen so prominent, dass wir am Sonntag an den Ortseinfahrten für alle Erwachsenen 2,50 Euro Eintritt nehmen können“, sagt Britta Benecke, die zweite Vorsitzende des Vereins. Dafür gibt es aber auch kostenlose Parkplätze und für Kinder eine aus Strohballen gebaut Burg, einen Schminkstand und eine Werkstatt, in der sie selbst Ährenbilder kleben dürfen. Nach einer Zeltdisco am heutigen Sonnabend ist der Höhepunkt am Sonntagnachmittag der Festumzug durchs Dorf, an dem 21 Wagen teilnehmen. Spätnachmittags wird dann die 20köpfige Jury den ersten Platz nach den Kriterien Idee, Sauberkeit und dem Gesamteindruck ausloben.
„Zumeist wollen dann Geschäftsleute aus der Region oder auch Gäste die mit viel Liebe gefertigte Ausstattungen der Wagen oder auch Details wie Figuren oder Tiere kaufen“, weiß Benecke. Das bringt den einzelnen Gruppen einen Teil ihrer Auslagen zurück, die pro Wagen bei mehreren hundert Euro liegen dürften. Die über sechs bis acht Wochen geleisteten Arbeitsstunden werden nicht gezählt. Und für die Scheunenplätze wird außer einem Obulus für den Strom nichts berechnet. Das ist (Ä)hrensache.
Für den Hamburger Freizeitforscher Ulrich Reinhardt ist Scharmbeck „ein sehr positives Beispiel für eine Dorfgemeinschaft“. Der wissenschaftliche Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen, die von British American Tobacco finanziert wird, glaubt an eine Renaissance der Nachbarschaft. „Die Leute wollen diese Erfahrungen. Oftmals fehlt aber ein zuverlässiger Organisator“, sagt er. Das Fest in dem Ort nahe der Kreisstadt Winsen werde aber Bestand haben, weil es einen festen Kreis von Interessenten gebe, die die Idee von einer zur nächsten Generation weitergebe. „Solche authentischen Veranstaltungen werden auch von den Gästen gesucht. Das zeigt sich schon daran, dass sie bereit sind, den Weg in Kauf zu nehmen, Eintritt zu zahlen und viel Zeit dort zu verbringen.“
Noch aber hat das Fest nicht begonnen. Für die 270 Wagenbauer unter den knapp 500 Vereinsmitgliedern kommt es jetzt auf jede Stunde an. Das Hinterhof Bauteam hat auf seinem Wagen eine Libelle mit 2,20 Meter Spannweite installiert, die wie ein Windspiel gelagert wurde. Beim kleinsten Lüftchen wird das Insekt anfangen, sanft auf dem Wagen hin und her zu schwingen. Doch die Gruppe um den Kunstschmied Rudi Garbers glaubt nicht an den ersten Platz. „Das Insekt ist wohl zu klein, um zu gewinnen“, sagt er.
Bei der Gruppe C’est la vie, die in denselben Räumen wie die Scheunenhocker arbeiten, sind Pokale und Erinnerungen an bisher sechs Siege an einer Stirnwand drapiert. Die Mitglieder im Alter von 30 plus bauen an einem Hexenhaus mit Ofen und einer Bewohnerin aus Heu, die noch auf einer Bank abseits sitzt. „Nein“, sagt Stephan Kruse, ansonsten Bankkaufmann bei einer Volksbank, „jetzt sollen auch mal Andere gewinnen. Wir hatten in diesem Jahr nicht so viel Zeit.“ Das Haus haben sie jedoch akkurat aufgestellt und kunstvoll über der Tür das Bild einer Katze eingefügt.
Etwas abseits, auf einem Pferdehof, hat sich die Ährenwerte Gesellschaft zusammengefunden. Der Bau des Borgwards mit einem filigran ausgestatteten Wohnwagen im Schlepp ist schon weit fortgeschritten. Allerdings soll das Gespann noch mit Goldfarbe gespritzt werden. „Wir hoffen auf eine Platzierung unter den ersten Neun“, sagt Wolfgang Prange, ein 54jähriger Schlosser. Die 16köpfige Gruppe befindet sich wie alle anderen im Endspurt. „Aber zum Schluss wird es immer zeitlich eng“, weiß Prange aus Erfahrung. Schließlich hat die Gesellschaft schon in den 80er Jahren mit Wagen für den Umzug gebaut.
Es ist jetzt stockdunkel in Scharmbeck. Aber niemand in den Scheunen stellt das Licht aus. Am Mast auf dem Pferdehof hat die Ährenwerte Gesellschaft ihre eigene Flagge gehisst. Und die wird erst wieder eingeholt, wenn beim Ernteball im Festzelt am späten Montagabend der letzte Tanz getanzt ist.