Bürgermeister André Wiese (CDU) räumt ein, dass Winsen im Albert-Schweitzer-Viertel nur an den Symptomen kuriert. Aber: “Ich bin fest davon überzeugt, dass wir dieses Quartier wieder flott kriegen.“
Winsen. Ende 1974 zogen Renate und Wolfgang Wiese in eine Dreizimmer-Wohnung im Innenhof der Einsteinstraße 14, mitten im Albert-Schweitzer-Viertel in Winsen. Im Mai 1975 waren sie dann zu dritt: Ihr Sohn André kam im neuen Krankenhaus Winsen zur Welt und nach drei Tagen in sein neues Zuhause im Neubauviertel des Wohnungsunternehmens Neue Heimat, das dem Deutschen Gewerkschaftsbund gehörte.
1974 war das Albert-Schweitzer-Viertel eine der besten Wohnadressen für junge Familien und Paare in Winsen. Die Mieten waren günstig, die Wohnungen von guter Qualität. Die Bewohner feierten gemeinsam große Straßenfeste. "Meine Eltern haben die Wohnung mit der Begründung bekommen, dass ein Kind unterwegs ist", sagt André Wiese, 38, an diesem Tag vor dem Hauseingang der Einsteinstraße 14. "Sie waren überglücklich, als sie die Chance hatten, hierher zu kommen."
Heute ist das Albert-Schweitzer-Viertel ein ziemlich heruntergekommenes Quartier, umgeben von Einfamilien- und Reihenhäusern. In vielen der 189 Wohnungen sprießt der Schimmel, viele Fenster sind undicht, die Außenwände feucht, Balkone, Lampen und Sprechanlagen in den Hausfluren defekt. Wasserrohre platzen regelmäßig. An diesem Mittag laufen die Kinder im Treppenhaus der Albert-Schweitzer-Straße 4 an einem Haufen Erbrochenem vorbei. Flüchtig bedeckt ist er mit ein paar Reklamezetteln.
Die Neue Heimat gibt es schon lange nicht mehr. Und aus dem kleinen André, der hier im Viertel im Innenhof spielte und in der Einsteinstraße 14 im zweiten Stock rechts wohnte, ist Winsens Bürgermeister geworden, der auch schon einmal für die CDU im Niedersächsischen Landtag saß.
Auch die Einwohnerstruktur im Albert-Schweitzer-Viertel hat sich seit 1974, als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zum zweiten Mal Weltmeister wurde, geändert: Früher lebten zumeist deutsche Paare mit ein bis zwei Kindern im Viertel. Ein klassisches Familienbild: Mutti blieb oft zu Hause, Vati ging zur Arbeit. Heute haben 80 Prozent der rund 500 Bewohner einen Migrationshintergrund, fast jeder zweite im Viertel ist unter 25 Jahre alt. Ein Großteil der Menschen hier in der Siedlung lebt von Transfer- und Sozialleistungen.
"Man muss solche Viertel im Spiegel der Zeit sehen", sagt André Wiese im Innenhof. "Ich bin fest davon überzeugt, dass wir dieses Quartier wieder flott kriegen. Wir müssen jetzt durch diese Phase hindurch."
Diese Phase - das ist der systematische Verfall unter den Händen der Eigentümerin des Viertels: der Capricornus GmbH & Co. Norddeutsche Wohnanlagen KG mit Sitz in Berlin. "Die Capricornus hat die anfänglich großen Hoffnungen der Stadt Winsen leider überhaupt nicht erfüllt", sagt André Wiese. "Wir haben immer gesagt, nach dem Voreigentümer Dr. Gerd Thormählen kann es nur besser werden. Es ist leider nicht besser geworden."
Und auch langfristige Besserung ist nicht in Sicht: Denn über das Vermögen der Capricornus GmbH hat das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg - wie das Abendblatt bereits berichtete - die Eröffnung des Insolvenzverfahrens angeordnet. Auch die Stadt Winsen ist Gläubiger in diesem Verfahren. Sie hatte im September 2012 ein Modernisierungs- und Instandsetzungsgebot verhängt. Danach soll das Unternehmen fällige Arbeiten im Umfang von 1,942 Millionen Euro im Albert-Schweitzer-Viertel vornehmen. Aber der Rechtsstreit um dieses Gebot ruht jetzt erst einmal während des Insolvenzverfahrens - und das könnte Jahre dauern.
Bürgermeister André Wiese hofft indes, dass sich ein vernünftiger Investor findet, der die Wohnungen im Viertel übernimmt. "Wir hoffen, dass wir schnell einen qualifizierten und guten Ansprechpartner finden, der den Sanierungsstau beseitigt. Die Bausubstanz ist noch nicht verkommen. Aus den Häusern ließe sich etwas machen. Das Albert-Schweitzer-Viertel ist ein rentables Objekt. Es ist umso rentabler, je stärker der neue Eigentümer mit der Stadt Winsen und den Bewohnern an einem Strang zieht und zusammenarbeitet."
Die Mieter im Viertel rücken indes zusammen. Sie wehren sich gegen zu hohe Betriebs- und Heizkostenabrechnungen im Abrechnungszeitraum 2010/2011. Drei Mieterversammlungen haben bereits getagt. Ein Rechtsanwalt vertritt allein 60 Mietparteien.
"Es blüht hier nicht nur der Schimmel, es blüht auch ehrenamtliches Engagement", sagt der Quartiersmanager der Anlage, Sven Duncker, 46. Es gibt eine Stadtteilaktivkasse, die Ausfahrten und den Aufräumtag sponsert; Schüler verleihen Outdoor-Spiele, Kinder und Jugendliche kommen zur Hausaufgabenhilfe und fünf Bewohnergruppen treffen sich regelmäßig im Gemeinschaftsraum. Es ist Leben im Viertel, es existiert Gemeinsinn.
180.000 Euro will die Stadt Winsen im Rahmen des Projektes Soziale Stadt in diesem Jahr in die Verkehrsberuhigung der Albert-Schweitzer-Straße, der Einsteinstraße und des Humboldtweges investieren - Anwohner und Bewohner waren teilweise mit deutlich zu hoher Geschwindigkeit durchs Viertel gefahren.
Ein Spielplatz soll zudem einen freundlicheren Vorplatz erhalten. "Im Moment kurieren wir hier nur an den Symptomen, weil uns der entscheidende Partner fehlt: der Eigentümer", bilanziert Bürgermeister André Wiese an diesem Tag.
Und wie geht es weiter im Quartier? "Das würde ich auch gern wissen", sagt der Sohn des Viertels. "Aber das wissen wir zurzeit leider nicht. So ein Insolvenzverfahren ist eine hoch komplexe Angelegenheit."