Bürger fürchten Probleme. Lage spitzt sich nach Sietas-Insolvenz zu. Zuständigkeiten selbst für Insider schwer zu durchdringen.
Cranz. Verschlickung. Es ist dieses Wort, bei dem in Cranz und Umgebung alle Alarmglocken schrillen. Seitdem bekannt ist, dass sich Ablagerungen von Schlick und Sand zu einer sogenannten Sandlinse verfestigten und für den Defekt am Estesperrwerk vor fast genau einem Jahr verantwortlich waren, beobachten die Bürger das Geschehen am Elbufer mit Argusaugen. Das Sperrwerk ist ihr unverzichtbarer Schutz vor Sturmfluten, sein Funktionieren garantiert ihre Sicherheit. Umso größer ist die Unruhe, wenn sie derzeit auf den Fluss vor ihrer Haustür blicken.
Bei Niedrigwasser sieht es am Deich, wo die Este in die Elbe mündet, wie im Wattenmeer bei Ebbe aus. Möwen rasten auf Sandbänken, die Elbfähre Cranz-Blankenese kann laut Pendlerberichten ihre reguläre Route nicht mehr so regelmäßig bedienen wie früher. Zu gering ist das Wasser in der Fahrrinne. Wer dennoch auf die andere Seite der Elbe gelangen will, muss per Bus zur Fährstation Finkenwerder ausweichen. Obwohl das Fährunternehmen Hadag die Unregelmäßigkeiten als "durchaus üblich" für das Winterhalbjahr bezeichnet, weil dann beispielsweise starker Ostwind wehe, sind sich die Bewohner südlich der Elbe sicher: Die Außeneste bei Cranz versinkt immer mehr im Sand.
Auch Karl Tamke hat diesen Eindruck. Studien hätten ergeben, dass jedes Jahr zehn Zentimeter Schlick dazukommen, sagt der 65 Jahre alte Francoper, der 30 Jahre lang bei der Hafenverwaltung Hamburg Port Authority (HPA) gearbeitet hat und nun, im Ruhestand, Vorsteher des Hauptentwässerungsverbands der Dritten Meile Alten Landes und Mitglied im Verwaltungsausschuss für Hochwasserschutz der Stadt Hamburg ist. Bei der HPA war Tamke unter anderem für die Umwandlung des riesigen Schlickhügels in Francop in eine grüne Parklandschaft verantwortlich. Es ist deshalb nicht übertrieben, ihn als Experten in Sachen Schlick zu bezeichnen.
Wenn nun einer wie Tamke sagt: "Ich traue dem Estesperrwerk nicht mehr", ist das ein durchaus ernst zu nehmender Satz. Die Sohle des Sperrwerks liege weit niedriger als die Fahrrinne. Da der Schlick so zwangsläufig Richtung Sperrwerk laufe, müsse ständig gebaggert werden, um die Fluttore für den Ernstfall freizuhalten, sagt Tamke. Das Baggern dort sowie in der gesamten Außeneste wird zu einer unendlichen Angelegenheit, die vor allem auf den wirtschaftlichen Niedergang der direkt am Sperrwerk gelegenen Sietas-Werft zurückzuführen ist.
Ein einziges Schiff werde derzeit auf der Werft gebaut, die sich seit Februar im Insolvenzverfahren befindet, erklärt die zuständige Presseagentur Schellenberg & Kirchberg auf Nachfrage. Wie viele Schiffe es vor der Insolvenz waren, könne man nicht sagen. Karl Tamke geht aber von etwa 20 Schiffen pro Jahr aus. Regelmäßig seien damals vor jedem Auslaufen die Docks gereinigt worden, erzählt er. Die Sedimente der Este seien ständig in Bewegung gewesen und wurden mit den Schiffen hinaus in den Fluss gespült. Demnach habe der heutige Beinahe-Stillstand in der Produktion den Stillstand der Sedimente und damit auch die Verschlickung zur Folge.
Beim Arbeitskreis Cranz, einem Zusammenschluss engagierter Bürger, ist diese Problematik ebenfalls bekannt. Sie haben das Gefühl, Hamburg lasse sie damit allein. "Es gibt keinen Plan, wie man Este und Mühlenberger Loch freihalten kann", kritisiert Gudrun Schittek, die zudem für Bündnis 90/Die Grünen im Regionalausschuss Süderelbe sitzt. Ein einwandfrei funktionierendes Sperrwerk sei überlebensnotwendig für das gesamte Gebiet, zumal es eines der wenigen in Hamburg sei, das am Zusammenfluss von Este und Elbe beiderseits von Hochwasser und Sturmfluten bedroht werde. "Das Problem ist akut, aber nichts geschieht."
Zumindest den Vorwurf des Nichtstuns kann HPA zurückweisen. Am Dienstag vergangener Woche habe HPA mit Sonder-Baggerarbeiten an der Außeneste begonnen, sagt Pressesprecher Alexander Schwertner. Der Laderaumsaugbagger "Pieter Hubert" bringe 200 000 Kubikmeter Schlick sowie weitere Ablagerungen, die bis Ende März dazukommen, in die Elbe vor Neßsand. Weil für das Gebiet rund um die Insel strenge Umweltauflagen hinsichtlich des Sauerstoffgehalts im Wasser gelten, dürfe das nur in der kalten Jahreszeit geschehen.
Zugleich macht Schwertner deutlich, dass der HPA-Einsatz, der mit 400 000 bis 500 000 Euro zu Buche schlägt, auch angesichts der hohen Kosten nur eine kurzfristige Lösung für das Problem ist. "Wir brauchen eine neue Regelung für diesen Bereich." Man sei nur aktiv geworden, um die schlimmste Verschlickung zu bekämpfen. In der Form habe man zuvor nicht agiert.
Mehr Aufklärung über die Sedimentation im Bereich Estesperrwerk und Sietas soll nun ein voraussichtlich Anfang kommenden Jahres vorliegendes Gutachten bringen, an dem das Ingenieurbüro Sellhorn unter Leitung von Birgitt Brinkmann derzeit arbeitet. Denn Fakt ist: Sietas, Schlick und Sperrwerk, diese drei bilden eine Art Schicksalsgemeinschaft. Dabei sind sie so kompliziert miteinander verflochten, dass selbst Vertreter der Behörden die Zuständigkeiten nicht aus dem Stand erläutern können.
Zunächst wäre da die Drucksache 10/430 aus dem Jahr 1982. In ihr ist festgelegt, dass HPA im Auftrag der Hamburger Wirtschaftsbehörde die Außeneste ausbaggert. "Die Stadt Hamburg hat vertraglich mit dem Bund vereinbart, dass sie im Bereich der Außeneste und vor der Werft die für Sietas notwendigen Wassertiefen erhält", sagt Norbert Prick von der Öffentlichkeitsabteilung der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU), die die oberste Wasserbehörde in Hamburg ist. Eigentlich ist nämlich der Bund über das Wasser- und Schifffahrtsamt (WSA) Hamburg für die Este und Außeneste inklusive Kleinschifffahrt und Fährbetrieb verantwortlich. Einzige Ausnahme ist das Estesperrwerk, das in die Zuständigkeit von HPA fällt. HPA beschäftige sich nun damit, wie die Unterhaltungsbaggerungen für das Sperrwerk an der Estemündung bestmöglich gestaltet werden können, sagt Prick. "Wie und in welcher Form es hier zukünftig neue Regelungen braucht, hängt vor allem von der weiteren Entwicklung bei Sietas ab." Erst dann könne man sagen, ob in Zukunft HPA und Sietas die Fahrrinne für den Werftstandort weiter offenhalten. Dann müsste die Stadt gegebenenfalls mit dem WSA klären, wie die Zukunft der Estezufahrt insbesondere für den ÖPNV gestaltet werden solle.
Für Detlef Wittmüß, Amtsleiter des WSA, stellt sich diese Frage derzeit zumindest nicht. Das WSA habe die Aufgabe, die nötigen Tiefen für die Schifffahrt vorzuhalten, sagt er. Auch wenn die Ablagerungen in der Este vielleicht mehr geworden seien als früher, sei der Fluss immer noch tiefer, als er eigentlich sein müsste. "Warum sollten wir also noch tiefer baggern?", fragt er. Ihm lägen keine Informationen vor, dass Schiffe Probleme hätten. Und für das Sperrwerk sei HPA verantwortlich. Wenn man aber nach neuen Regelungen suche, werde das WSA selbstverständlich an Gesprächen teilnehmen.
Den Bürgern in Cranz dürfte all das nur ein schwacher Trost sein. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als endlich jemanden zu finden, der sich für die Problematik rund um das Sperrwerk komplett zuständig fühlt. "Wir suchen schon ewig", sagt Gudrun Schittek vom Arbeitskreis Cranz mit einem Hauch Verzweiflung in der Stimme. Mit Blick auf die trotz erfolgreicher Klage drohende Elbvertiefung, die eine schnellere Fließgeschwindigkeit des Flusses und damit mehr Erosion und mehr Sedimentation nach sich ziehen könnte, rechnen die Menschen im Süderelberaum mit dem Schlimmsten. "Die Elbe wird weiter vertieft", sagt Karl Tamke. Nur die Folgen, die würde man einfach vergessen.