Die Kulturwissenschaftlerin Darijana Hahn erforscht Kioske. Nirgendwo gibt es so viele davon wie in Harburg.
Harburg/Wilhelmsburg. Der Biervorrat neigt sich abends bei der Fußball-Übertragung schon zur Halbzeit dem Ende entgegen. Ausgerechnet am Sonntag ist kein Toilettenpapier mehr im Haus. Die Zeitung muss früh morgens zur Fahrt in der U-Bahn her. In diesen drei - und bestimmt in hundert weiteren Fällen - hilft nur einer: der Kiosk um die Ecke. Er ist die Rettungsinsel im Einzelhandel.
Harburg gilt als Hochburg des Klappenverkaufs. 100 Trinkhallen, wie der Kiosk hier in der Amtssprache heißt, gibt es. Im Süden Hamburgs werden die kleinen Verkaufsläden sogar zur Wissenschaft. Die Kulturwissenschaftlerin Darijana Hahn aus Wilhelmsburg erforscht ganz akademisch das Phänomen Trinkhalle. Die 39-Jährige gehört damit zu der seltenen Expertengruppe der Kioskologen.
Wie kommt sie zu diesem skurril anmutenden Fachgebiet? Schon als Kind, sagt Darijana Hahn, aber habe sie die Eigenschaft gehabt, Alltägliches zu hinterfragen. Ein kleiner, magischer Moment löste letztlich das Bedürfnis aus, der Verkaufsbude wissenschaftlich auf den Grund zu gehen: Als sie einmal an einer Bushaltestelle wartete, sei ihr Blick an einem Kiosk hängen geblieben: "Es war ein mir sympathisches Bild", erinnert sich Darijana Hahn. Nur, fragte sich die Kulturwissenschaftlerin: Warum gibt es in der Region so auffallend viele Kioske?
Die Erkenntnisse der Wissenschaftlerin sind ein Plädoyer für die Trinkhalle: Kioske stifteten Öffentlichkeit und trügen zur Lebendigkeit des Stadtteils bei. "Der Kiosk", sagt Darijana Hahn, "ist Sozialamt, Kindergarten und Wohnungsamt in einem." Wer an der Klappe, dem typischen Merkmal eines Kiosks, kauft, holt nicht einfach nur seine Sonntagszeitung oder eine Schachtel Zigaretten ab. Für die Kioskologin ist dies nicht ein banaler Einkauf, sondern ein kommunikativer Akt. Der Kunde erfülle sich damit sein Urbedürfnis nach dem Einfachen. Die Boheme sehne sich nach der schlichten Architektur, gerade weil die etwas anarchisch anmutende Verkaufsbude so gar keinen beabsichtigten Lifestyle hat.
Ursprünglich war Kiosk ein Begriff aus der Architektur: Er bezeichnete einen frei stehenden, geöffneten Pavillon. Im 19. Jahrhundert zog der Kiosk in der Bedeutung als kleiner Verkaufsstand in den allgemeinen Sprachgebrauch der Deutschen ein. In Köln wird er "Büdchen" genannt. Die sogenannte Mäßigungsbewegung, weiß Darijana Hahn, forcierte ab 1880 das Aufstellen von Trinkhallen in Arbeitergegenden. So wollte man Wasser unter das Volk bringen, das bisher seinen Durst mit Bier und Brandwein löschte. Der Volksmund nannte die Trinkhalle deshalb auch "Kurort des kleinen Mannes". Harburg war schon zu Beginn der Bewegung Hafengebiet und Standort zahlreicher Fabriken. So erklärt sich die bis heute hohe Anzahl von Kiosken in dem Stadtteil. Die Vorstellung, dass Menschen vor und nach Schichtende die Gelegenheit zum Einkaufen haben sollen, halte sich bis heute in Harburg.
20 Kioskbesitzer in Harburg und Wilhelmsburg hat die Expertin im Laufe ihrer Forschung interviewt. Zehn Trinkhallenbetreiber zählt sie mittlerweile zu ihrem Freundeskreis. Da hört sie einiges - und plötzlich ist die Kioskforschung sogar politisch. Auf Anordnung der Verwaltung habe ein befreundeter Kioskbesitzer aus Wilhelmsburg mittlerweile am Sonntag geschlossen. Er habe weite Teile seines Sortiments an dem Tag nicht mehr verkaufen dürfen, so dass sich der Betrieb an dem sonst so umsatzstarken Tag nicht mehr gelohnt habe.
Bei ihren Recherchen stieß die Kioskologin auf eine unterschiedliche Rechtsauslegung in Hamburg: Der Bezirk Harburg kenne den Rechtsbegriff "Trinkhalle" - der Bezirk Mitte aber nicht. In Wilhelmsburg sei demnach ein Kiosk juristisch eine "Schankwirtschaft mit Klappenverkauf". Die Folge ist offenbar eine strengere Öffnungszeitenpolitik als in Harburg: "Das Bezirksamt Mitte gefährdet die Kioskkultur in Wilhelmburg", sagt die Kioskologin.
Tankstellenshops und bis 22 Uhr geöffnete Supermärkte - trotz der veränderten Wettbewerbsbedingungen glaubt Darijana Hahn an die Zukunft des Kiosks: Der Klappenverkauf mache das Wohnumfeld freundlicher. Besitzer und Kunden hätten eine geradezu innige Beziehung. Etwas, das Tankstellen und Discounter ihrer Meinung nach nicht bieten können. Die Kioskexpertin kauft manchmal an der Klappe selbst Dinge, die etwas teurer als im Supermarkt sind: Mehl etwa, wenn sie sonntags backen will. "Ich kaufe in einer Art Mischung aus Unvernunft und bestem Wissen", sagt sie.