Herr Lehmann, das ist einer, der es gern ruhig angehen lässt: In Jeans und Cordjacke, wuscheligem Haar und ausgeleiertem Unterhemd, beginnt ein anständiger Tag erst gegen Mittag mit einem Besuch in der “Markthalle“.

Harburg. Anders heute: Bereits um zehn klingelte das Telefon nach durchzechter Nacht. Mutter (herrlich pointiert und seit sieben Uhr auf: Gisela Kraft), im zart lila Blouson mit Nietengürtel samt Husky-Zierschnalle, anständiger Föntolle und leider auch extrem munterer Stimme, ist viele Kilometer entfernt am anderen Ende: ihren Besuch für Ende Oktober ankündigend. Eine extreme Ruhestörung für Stefan Haschke alias Frank Lehmann, doch es bleiben noch sechs Wochen.

Nach leicht schleppendem Anfang nimmt uns Regisseurin Mona Kraushaar mit in ein brodelndes Berlin-Kreuzberg, Lehmanns Biotop: In der "Markthalle" wartet auch in den späten 80er-Jahren der Frühstückswahnsinn mit Dutzenden Eiern und Milchkaffees, wie uns Kraushaar augenzwinkernd mitteilt, extrem agile Kellner flitzen im Punk-Style oder in der hippen Japanversion mit Kopfhörer durch die Saalreihen - und in der Küche brutzelt die Köchin Katrin (nachhaltig und gut: Victoria Fleer), die es Lehmann bald nicht nur wegen ihres Schweinebratens mit Kruste angetan hat: Sie taugt ausgezeichnet zur Küchenphilosophie über den Lebensinhalt, der womöglich in eine Bierflasche passt.

Abgesehen von wenigen Überzeichnungen und zu lärmenden Gags gelingt es Kraushaar dramaturgisch besonders gut, das Publikum in den Kosmos, ja das Bermudadreieck zwischen den Kneipen "Markthalle", "Einfall" und "Anfall" zu ziehen und etwas von der liebevollen Lethargie der Lebensentwürfe ihrer Kreuzberger Lebenskünstler einzufangen. Da ist der leicht paranoische Erwin, Lehmanns Chef, stets im Kampf gegen Drogen - oder Karl, der verhinderte Künstler, der am Ende für eine existenzielle, zum Absurden neigende Wendung des Stückes und ein wenig Nachdenken sorgt - oder eben "Kristall-Rainer", den alle für einen Zivilbullen halten.

Die gelungen gezeichneten Typen bahnen sich ihren Weg durch ein eher schrulliges, arg holzlastiges, letztlich aber passendes Bühnenbild von Katrin Kersten. Launige Höhepunkte: der Besuch in einer Schwulenbar, Hochzeitsvisionen im Mehrzweckschwimmbecken oder das Verhör bei Grenzpolizisten der DDR - der Theaterabend mit Lehmann und Co. gestaltet sich mitreißend und leichtfüßig.

Im Stück räsoniert Lehmann, tragend gespielt von Stefan Haschke: "Man müsste ein viel härterer Knochen sein." Ein Teil des Premierenpublikums am Harburger Theater biss sich an diesem Knochen die Zähne aus: Sie zeigten sich irritiert durch das jugendliche Stück, die revolutionäre Sprache und das laute Spiel. Leider ging die Inszenierung von Sven Regeners Kult-Roman "Herr Lehmann", mittlerweile selbst Mainstream und nicht mehr zur taufrischen ersten Garde zählend, mit erheblich gelichteten Stuhlreihen und kurzem, innigem Applaus auf die Zielgerade: Man hatte das Gefühl: Zwischen Bühne und Publikum trafen Generationen aufeinander. Vorstellungen bis 14. Januar.