Hamburg. Wie kam der berühmte Hanseat zum Rauchen und zur antiken Philosophie? Die Konfirmation des späteren Kanzlers war ein Schlüsselmoment.
Im Langenhorner Wohnhaus von Helmut Schmidt (1918–2015) lässt sich noch heute eine kleine Figur bewundern. Es ist eine Nachbildung der Reiterstatue des römischen Kaisers Marc Aurel (121–180 n. Chr.), die als Kopie auf dem Kapitolsplatz in Rom und als Original in den Kapitolinischen Museen zu bestaunen ist. Das Kunstwerk stammt aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus.
Helmut Schmidt, der ehemalige Hamburger Innensenator, Bundeskanzler und Welterklärer, hatte vor Jahrzehnten eine Miniaturausgabe auf seinem Schreibtisch platziert. Dort sollte sie ihn beständig an Marc Aurel erinnern.
Kanzler Schmidt und Kaiser Marc Aurel: Lektüre mit 15 Jahren
Der Kanzler und der Kaiser: Kein Denker begleitete Helmut Schmidt so intensiv und kontinuierlich wie der antike „Philosoph auf dem Kaiserthron“. Dessen „Selbstbetrachtungen“ gehörten fest zur literarisch-philosophischen Hausapotheke im Hamburger Bungalow und während seiner Zeit als Bundeskanzler in Bonn. Schmidt las das Werk, das zwischen 170 und 180 in den Feldlagern des Regenten entstand, erstmals als Fünfzehnjähriger am Tag seiner Konfirmation.
Der römische Kaiser Marc Aurel, Kriegsherr, Schöngeist und Glückssucher, zählt zu den bedeutendsten Vertretern der Stoa. Wenn in der Postmoderne von „stoischer Gelassenheit“ die Rede ist, dann erinnert das an eine grundlegende Tugend dieser philosophischen Richtung. Ihr Fundament ist nicht das dosierte Lustprinzip der Epikureer mit der Vermeidung von Schmerz, sondern ein ethischer Lebenswandel, der auf Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz und dem Pflichtprinzip der Vernunft beruht.
Glückseligkeit, so die Annahme, erreiche man mit den Tugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Beherrschung und Menschlichkeit.
Lebenshilfe: Der Büchermarkt zur „Stoa“ boomt
Schmidt las die „Selbstbetrachtungen“ in einer Zeit, als vom heutigen Boom des Stoizismus auf dem Büchermarkt der Selbstoptimierung noch keine Rede war. Gelassenheit, Selbstbeherrschung und Seelenruhe sind zu Merkmalen überlebenswichtiger Resilienz in der Epoche der „Zeitenwende“ geworden. „Stoizismus Tag für Tag“, „Der tägliche Stoiker“ und „Stoizismus für Einsteiger“ lauten einige der gefragten Buchtitel.
Immer mehr Menschen interessieren sich für die antiken Stoiker und ihre Wege zur Ataraxie (Gelassenheit und Unerschütterlichkeit des Gemüts). Und natürlich steigen sie dann ein in die Lektüre der legendären „Selbstbetrachtungen“.
Das sind Sätze aus den „Selbstbetrachtungen“ von Marc Aurel
Da heißt es zum Beispiel:
„Alle Gegenstände der Sinnenwelt verwandeln sich sehr schnell und lösen sich entweder in Rauch auf, wenn die Körperwelt ein Ganzes bleibt, oder werden sonst zerstreut.“
„Die beste Art, sich an jemand zu rächen, ist die, nicht Böses mit Bösem zu vergelten.“
„Die im Menschen herrschende Vernunft ist es, die sich selbst weckt und lenkt und zu dem macht, was sie ist und sein will, und jedem Vorfall das Aussehen verleiht, das es in seinen Augen haben soll.“
Welchen Einfluss übten solche „Selbstbetrachtungen“ auf Helmut Schmidt aus? Las er vorher in dem Werk, wenn er als Bundeskanzler einsame Entscheidungen wie bei der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ im Jahr 1977 treffen musste? Und war er als Mensch tatsächlich gelassen und seelenruhig?
Das sagt ein Historiker der Helmut-Schmidt-Universität
„Schmidt“, sagt der Hamburger Historiker Helmut Stubbe da Luz, „hat sich wohl selbst als Stoiker betrachtet, und zwar als einen Stoiker im landläufigen Sinn. Also als einen Menschen, der Gelassenheit und Pflichtbewusstsein an den Tag zu legen pflegt, der aber auch in seinem eigenen persönlichen Fall mit Kenntnissen über den Stoizismus aufwarten konnte, namentlich über Marc Aurel. Er war bereit und in der Lage, über die Verbindungen zwischen stoizistischen Idealen und eigenen Handlungen nachzudenken.“
Onkel Heinz schenkte Helmut Schmidt die „Selbstbetrachtungen“
Die „Selbstbetrachtungen“ zogen Schmidt bereits als Jugendlichen in den Bann, nachweislich erstmals am Abend seiner Konfirmation. Sein Onkel Heinz Koch hatte ihm aus diesem Anlass im Jahr 1934 eine Werkausgabe geschenkt. „Nach dem kirchlichen Ritual und der anschließenden Familienfeier begann er noch am selben Abend, in dem Buch zu lesen“, sagt Meik Woyke, Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung. Während Schmidt dem Konfirmandenunterricht nach eigenem Bekunden nur wenig abgewinnen konnte, war er von Aurels Werk begeistert. Helmut Schmidt bekannte rückblickend in einem Beitrag für die „Zeit“: „Bei der Lektüre der Selbstbetrachtungen des Marc Aurel hatte ich (…) zum ersten Mal das Gefühl, dass dieses Buch ein für mein weiteres Leben richtungsweisendes Buch werden würde.“
Die ersten Zigaretten bekam Helmut Schmidt vom Onkel
Heinz Koch war der Bruder von Schmidts Mutter Ludovika. Schmidt nannte ihn seinen „Lieblingsonkel“ und soll von ihm auch das erste Päckchen Zigaretten erhalten haben. So nahm das lebenslange Laster seinen Lauf. Im Frühjahr 1937, als Schmidt sich im Übergang vom Abitur zum Reichsarbeitsdienst befand, führte Koch seinen Neffen in die südlich von Worpswede gelegene Künstlerkolonie Fischerhude ein, betont der promovierte Historiker Woyke.
Als Helmut Schmidt zum Kriegsdienst eingezogen und an die Front geschickt wurde, nahm er das Konfirmationsgeschenk mit. „Er trug seinen Marc Aurel an der Front im Tornister“, schreibt der Historiker Alexander Demandt im Vorwort seiner Biografie über Marc Aurel, die er Helmut Schmidt gewidmet hat.
Das sagt der Historiker der Bundeskanzler-Schmidt-Stiftung
Wie Meik Woyke sagt, dienten die „Selbstbetrachtungen“ „Schmidt zur geistigen Stärkung und als moralischer Halt, was angesichts der Brutalität des Kriegsgeschehens auch dringend nötig war“.
So sporadisch Helmut Schmidt in späteren Jahren „seinen“ Marc Aurel las, zwei Tugenden lernte er aus der Lektüre: innere Gelassenheit und Pflichterfüllung. „Marc Aurel regte ihn an, sich kritisch mit der spannungsreichen Beziehung zwischen Pflichterfüllung und Gelassenheit auseinanderzusetzen“, sagt Meik Woyke.
In seiner Bewunderung spielte es für Schmidt eine untergeordnete Rolle, dass Marc Aurel als Kaiser (161 bis 180 nach Christus) mitnichten so vorbildlich und gelassen agierte, wie es in den „Selbstbetrachtungen“ gefordert wurde. „Vielmehr setzte er – wie Schmidt erst später erfuhr – die Interessen des römischen Imperiums mit großer Härte durch. Er führte mehrere Kriege, machte die Abschaffung der Sklavenfolter rückgängig und forcierte die Christenverfolgung“, so Woyke.
Helmut Schmidt über den römischen Kaiser Marc Aurel
Helmut Schmidt beurteilte das von ihm geschätzte Werk und seinen Autor einmal so: „Wenn wir die Selbstbetrachtungen lesen und ihren Stoizismus bewundern, dürfen wir daraus nicht schließen, dass der Autor auch im wirklichen Leben ein Stoiker war.“ Im Gegenteil, der historische Kaiser habe ganz und gar nicht so gelassen und vorbildlich gehandelt, wie er es in seiner Schrift fordert.
Hat Marc Aurel wirklich das Denken Helmut Schmidts geprägt?
Der Historiker Helmut Stubbe da Luz lehnt es ab, davon zu sprechen, dass Marc Aurel das Denken Helmut Schmidts „geprägt“ habe. Das könne den Eindruck erwecken, als gäbe es einen ursächlichen, geradlinigen Zusammenhang zwischen einer Lektüre, den Gedanken des Lesers und manchen seiner Handlungen, die aus diesen Gedanken entstünden.
Stoische Philosophie: Gelassenheit und Pflicht
Dem sei offenbar nicht so. „Vorstellbar ist aber wohl eine bei Schmidt im Laufe diverser Entscheidungs- und Begründungsprozesse erfolgte Intensivierung der – was nun speziell Marc Aurelius angeht – vornehmlich auf ,Gelassenheit‘ und ,Pflichtbewusstsein‘ gerichteten Gedanken, durch Wiederholung und Variationen“, sagt Stubbe da Luz, Privatdozent der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Wandsbek.
Im Lauf der Zeit habe Schmidt einen „moderaten persönlichen Kult um Marc Aurel herum veranstaltet, mit freudiger Unterstützung aus seinem diversen sozialen Umfeld“, so der Wissenschaftler. Marc Aurel wurde zum Idol, es kamen Textausgaben und Miniatur-Statuen hinzu.
Helmut Schmidt und die „bedingungslose Pflichterfüllung“
Und was sagt Helmut Schmidt selbst?
„Vor allem die beiden Tugenden“, schrieb er in einem Beitrag für die „Zeit“, sprachen mich auf der Stelle an: die innere Gelassenheit und die bedingungslose Pflichterfüllung.“
Diese beiden „Gebote“ standen Schmidt wohl stets als hehres Ziel vor Augen. Denn das Gegenteil von Gelassenheit sei Aufgeregtheit, Nervosität – ein Zustand, in dem man im äußersten Fall nicht mehr Herr seiner selbst sei, so Schmidt.
„Gelassenheit bewahrt einen davor, zu schnell zu entscheiden und dabei Fehler zu begehen. Sie ist eine Hilfe, fast eine Voraussetzung für die Anwendung der Vernunft: Nur wer die innere Gelassenheit mitbringt, kann auf die Stimme der Vernunft hören.“
Schmidt hat die „Selbstbetrachtungen“ selektiv rezipiert und herausgepickt, was für ihn vorbildlich und nachahmenswert schien. Die Gesamtperson des philosophierenden Kaisers interessierte ihn dabei nicht. Aber eine mehr oder weniger vorhandene innere Gelassenheit in entscheidenden Momenten als Bundeskanzler gab ihm offenbar die Kraft, seiner Pflicht nachzukommen.
Die größten Herausforderungen von Helmut Schmidt
Als Hamburger Innensenator und später als Bundeskanzler musste er Entscheidungen treffen, die unmittelbar Einfluss auf das Leben von Menschen hatten: Bei der Hamburger Sturmflut 1962 ging es um schnelles Katastrophenmanagement, bei der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ 1977 in Mogadischu um das Leben von 86 Passagieren und der Crew. Und bei der Entführung durch die Rote Armee Fraktion (RAF) um das Leben von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer.
Schmidt bekannte zwar später, dass er beispielsweise bei den Demonstrationen gegen den von ihm forcierten NATO-Doppelbeschluss „gelassen“ geblieben sei, also im ureigenen Sinne stoisch handelte. Aber dass die Lektüre der „Selbstbetrachtungen“ Entscheidungen direkt beeinflusste, kann prinzipiell ausgeschlossen werden. „Praktisches politisches Handeln lässt sich mitnichten eins zu eins aus der Philosophie ableiten, zumal in Krisensituationen wie der Sturmflutkatastrophe 1962 in Hamburg oder angesichts des Terrors der Roten Armee Fraktion“, erklärt Meik Woyke.
Wenn Schmidt wirklich so gelassen gewesen sein sollte, dann „hat ihm das sicherlich psychologisch geholfen“, fügt Helmut Stubbe da Luz hinzu. Aber ganz grundsätzlich: „Ethisch kann Gelassenheit auch hier kritisiert werden. Gelassenheit dürfe nicht in Nachlässigkeit ausarten – oder Gleichgültigkeit.“
Mehr noch: Schmidt hat mehrfach betont, dass ihm angesichts der Flutkatastrophe, der Entführung Hanns Martin Schleyers und des Lufthansa-Jets eine äußere Orientierung gefehlt habe. Weder in der Religion noch in der Philosophie sei sie zu finden gewesen. Seine Entscheidung habe er deshalb aus seiner politischen Lebenserfahrung, seiner Vernunft und seiner moralischen Ansicht heraus treffen müssen. Stubbe da Luz: „Schmidt hat sich also gewissermaßen an sich selbst orientiert. Er habe sich auf sich selbst zurückgeworfen gesehen. In diesem Selbst mögen Eindrücke aus der einen oder anderen philosophischen Lektüre mit enthalten gewesen sein.“
Marc Aurel gehörte nicht allein zu den Denkern, denen sich der Politiker und späte „Welterklärer“ verbunden fühlte.
Darüber hinaus spielten Immanuel Kant und dessen Kategorischer Imperativ eine wichtige Rolle. Weitere Intellektuelle waren der Soziologe Max Weber und der Philosoph Karl Popper. „Mithilfe von Max Weber dachte Schmidt über das richtige Verhältnis zwischen Augenmaß, Verantwortung und Leidenschaft in der Politik nach“, sagt Meik Woyke. Und mit Popper, zu dem Schmidt als Bundeskanzler persönlichen Kontakt aufnahm, verband ihn das Bekenntnis zum kritischen Rationalismus sowie die Ablehnung von totalitären Weltanschauungen und Systemen.
Helmut Schmidt las auch Immanuel Kant und Karl Popper
Der römische Kaiser nimmt dabei eine grundlegende Stellung in der intellektuellen Vita Schmidt ein. Helmut Stubbe da Luz sagt es so: „Im Lauf von Jahrzehnten seiner politischen Karriere hat Helmut Schmidt für die Begründung von Handlungen nicht selten auf zentrale Gedanken zurückgegriffen, die ihm bei der Lektüre besonders bekannter Texte berühmter Philosophen positiv aufgefallen waren, ganz überwiegend von Marcus Aurelius, Immanuel Kant, Max Weber und Karl Popper.“ Schmidt habt sich gern zu diesen berühmten Intellektuellen bekannt, sich mit ihnen auch geschmückt. „Der historisch älteste und zugleich Schmidt am frühesten bekannt gewordene war Marcus Aurelius.“
Bis zu seinem Lebensende im Jahr 2015 beobachte, reflektierte und kommentierte Helmut Schmidt das politische Geschehen auf der Welt. Wie einst sein Vorbild Aurel erwies er sich in öffentlichen Gesprächen als Meister der Selbstreflexion. Wer ihn persönlich kennenlernen durfte, wird wissen, dass er ein Stoiker im Sinne von Gelassenheit und Seelenruhe weder als Politiker noch im Privaten war. „Dafür trieben ihn sein Temperament und seine Ungeduld viel zu sehr an – um politisch etwas zu bewegen und dem Gemeinwohl zu dienen, der ‚res publica‘“, betont Meik Woyke.
Bereits unmittelbar nach dem Ausscheiden aus dem Kanzleramt am 1. Oktober 1982 stellte Schmidt mit dem für ihn typischen hanseatischen Understatement fest: „Alles in allem haben wir es nicht so schlecht gemacht.“
Die Freuden der Pflichten (Siegfried Lenz) mögen ihm dabei genauso geholfen haben wie philosophisch erarbeitete Zeiten der Gelassenheit. In jenen Augenblicken, in denen er sich an Marc Aurel erinnerte, kehrte jedenfalls nach eigenen Aussagen „die Gelassenheit“ zurück, die ihm sonst wohl nicht eigen war. Bestimmt immer dann, wenn er auf die Reiterstatue auf seinem Schreibtisch blickte und sich dieser Worte seines Vorbilds besann:
„Du hast Macht über deinen Geist – nicht über äußere Ereignisse. Erkenne dies, und du wirst Stärke finden.”