Hamburg. Neues Buch mit vielen Fotos bietet verblüffende Einblicke in den Alltag des verstorbenen Altkanzler-Ehepaars in ihrem Heim.
Regelmäßig fand Helmut Schmidts Haushälterin Ursel Trebbin auf der Küchenarbeitsplatte morgens Zettel mit Fragen oder Anweisungen des Altkanzlers vor: „Warum muss die Pumpe im Keller repariert werden? Was genau ist damit? Was kostet das?“ Loki Schmidt wiederum hatte bei ihren Einkaufszetteln ein praktisches Schema: Trebbin konnte die kleine Liste schnell von oben nach unten abarbeiten, weil die gewünschten Waren in derselben Reihenfolge aufgeführt waren, in der sie im örtlichen Supermarkt, am Eingang beginnend, angeordnet waren.
Anekdoten wie diese finden sich reichlich in dem neuen, von der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung herausgegebenen Buch „Zuhause bei Loki und Helmut Schmidt. Das Kanzlerhaus in Hamburg-Langenhorn“, das ab sofort im Handel erhältlich ist. Wer bislang meinte, angesichts der Fülle von Schmidt-Büchern nun schon alles über den Alltag der beiden Hamburger Ehrenbürger zu wissen, wird eines Besseren belehrt. Das Buch bietet viele zusätzliche Infos und manches Foto, das man noch nicht gesehen hat.
Virtueller Rundgang durch das Wohnhaus von Loki und Helmut Schmidt
Noch nie wurden Baugeschichte, Aufteilung und Nutzung des mittlerweile legendären Schmidt-Hauses am Neubergerweg 80 so ausführlich dargestellt. Nun wird deutlich: Das fälschlich immer mal wieder als Reihenhaus bezeichnete Schmidt-Heim ist mittlerweile ein aus zwei Doppelhaushälften zusammengebautes stattliches Einzelhaus mit mehr als 400 Quadratmetern Wohn- und Nutzfläche.
Dank einer erhellenden Zeichnung und eines systematischen Rundgangs mit vielen Fotos – inklusive Gäste-WC und Hauswirtschaftsraum – erschließt das Buch nun endlich die genaue Struktur des recht verwinkelten Heims, das im Laufe vieler Jahre durch An- und Umbauten immer größer wurde.
Peer Steinbrück, Kuratoriumsvorsitzender der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, nennt es im Vorwort „Ein Haus wie aus dem Lego-Baukasten mit diversen An- und Umbauten.“ 1984 gönnten sich die Schmidts sogar einen Whirlpool, der seitdem „eine große Labsal bot“, wie Helmut Schmidt dem verantwortlichen Architekten schrieb.
Im Zusammenhang mit der komplexen Baugeschichte, in einem Kapitel exzellent von Stiftungsdirektor Meik Woyke zusammengefasst, wird deutlich, dass sich der „Macher“ Helmut Schmidt höchstpersönlich jahrelang mit Ärgernissen herumschlagen musste, die so ziemlich alle Häuslebauer kennen – von Bauschäden und schlechtem Fernsehempfang bis zu fehlenden Telefonleitungen.
Loki und Helmut Schmidt tranken aus Senfgläsern
Auffällig und auch etwas anrührend ist die Anspruchslosigkeit der Schmidts, die den Bau des Hauses nur über mehrere Darlehen finanzieren konnten. Bis zuletzt tranken sie aus gespülten und weiter genutzten Senfgläsern, das „gute“ Geschirr kam nur für besondere Anlässe auf den Tisch. Die Äpfel an Lokis Baum im Garten, die eigentlich ungenießbar waren, verarbeitete Hamburgs Ehrenbürgerin zu Marmelade und Apfelbrot – Motto: Bei mir kommt nichts weg.
Das Mobiliar wurde im Lauf vieler Jahrzehnte kaum verändert, wodurch das Haus laut Peer Steinbrück „wie ein Museum für skandinavisches Möbeldesign“ wirke. In der Küche erneuerte man nur die Arbeitsplatte und ein paar Elektrogeräte, ansonsten erstrahlt sie noch unverändert im gelb-grünen Design der frühen 1970er-Jahre. Man mag sich darüber amüsieren, aber hier wird deutlich: Auch die Schmidts, beide bekanntlich aus eher einfachen Verhältnissen stammend, gehörten zu einer Generation, der die Entbehrungen vor allem der Kriegs- und Nachkriegszeit trotz ständig wachsenden Wohlstands ein Leben lang in den Knochen steckten.
Haushälterin bereiten jeden Morgen das Frühstück für die Schmidts
Was heute mitunter leichtfertig als geizig und spießig verspottet wird, war in Wahrheit einer Erziehung zur Anspruchslosigkeit und dem Erleben von Hunger und materiellen Verlusten geschuldet. Funktional, einfach, aber nicht abweisend wirkt auch Helmut Schmidts Büro – die „Arbeitshöhle“, in der er täglich viele Stunden verbrachte. Sein direkt daneben liegendes Schlafzimmer wurde noch nie öffentlich gezeigt, und entsprechende Fotos werden, Schmidts Privatsphäre respektierend, auch im Buch ausgespart.
Jeden Morgen bereitete Haushälterin Trebbin das Frühstück für die Schmidts zu und legte dann die abonnierten Zeitungen auf dem Esstisch parat. Im Buch erinnert sie sich, dass dabei immer dieselbe Reihenfolge eingehalten werden musste, wobei das Hamburger Abendblatt stets ganz oben gelegen habe.
Ergreifend und nur wenigen Insidern bekannt: Der Gedenkstein von Helmut Walter Schmidt, dem 1945 mit nur knapp sieben Monaten verstorbenen Söhnchen der beiden Schmidts, hat inzwischen auch seinen Platz neben dem Haus gefunden. Ursprünglich lag das Grab des Kindes in Schönow, einem Ortsteil von Bernau bei Berlin. Im Jahr 2013 ließ Helmut Schmidt, so steht es in dem neuen Buch, das Grab auflösen und den Stein wenige Tage später von einem Fahrer nach Hamburg holen. Am Neubergerweg wurde er dann unter einem Kirschbaum aufgestellt.
Fotos entstanden im leeren Schwimmbad des Hauses
Helmut und Loki Schmidt hatten zu Lebzeiten bestimmt, dass ihr Haus eines Tages für die Öffentlichkeit zugänglich sein sollte. Dass sie vor diesem Hintergrund alles im Originalzustand belassen haben, ist nicht nur verblüffend, sondern hier wird auch die Botschaft vermittelt: So waren wir, und da gibt es nichts zu verbergen.
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Die Autohupe, mit der Loki die legendäre Freitagsgesellschaft zum Essen rief, gehört genauso dazu, wie einige von 21 Schachspielen, angestoßene Suppentassen und natürlich: Zigarettenschachteln und Feuerzeuge. Dies alles uneingeschränkt so bewahren zu wollen und öffentlich zu machen, ist keineswegs spießig. Im Gegenteil: Es belegt Selbstbewusstsein und Gelassenheit der Schmidts über deren Tod hinaus.
Anders gesagt: Die beiden verstorbenen, unvergessenen Bewohner dieses Hauses waren auch ziemlich cool.