St. Pauli steht für viel mehr als nur für Rotlicht und Reeperbahn. Wer es auch mal schrill und alternativ mag, der ist hier genau richtig.
Dort, wo die Frauen wortlos im Vorbeigehen "dem Rolf" ihren Liebeslohn zustecken, stehen ein zerknautschtes Ledersofa, zwei Sessel und ein runder Tisch voller Zeitungen, Kaffeetassen und Aschenbecher. Eine dunkle verqualmte Kammer, nur ein paar Quadratmeter groß. "Der Rolf", so nennen den Bordellchef alle, muss wieder lachen. Jedes Mal, wenn ein neuer Freier erscheint, verzieht er sein Gesicht und freut sich. Denn Rolf hat falsch gelegen mit seiner Einschätzung. Noch vor Stunden hatte er behauptet, die Geschäfte gingen schlecht. Man könne zugucken, tagsüber sei tote Hose. Sich davon selbst einen Eindruck zu verschaffen, dazu hatte er eingeladen. Und dann das: zwölf Freier zur Mittagszeit.
Wer auf St. Pauli nach dem Gang von Geschäften fragt, kriegt eine Antwort, die genauso falsch ist wie die Behauptung, Hamburger gingen nie auf den Kiez: auf die Sex-Meile und die bekannteste Straße Deutschlands, die Reeperbahn, die doch zum Wir-Gefühl der Stadt gehört, auch wenn das zuweilen geleugnet wird. Etwa von Helmut Schmidt, Altkanzler und Ehrenbürger Hamburgs, der anno 1986 in einem Fernsehfilm lapidar behauptete: "Und dann gibt es noch St. Pauli. Aber da gehen wir Hamburger nicht hin."
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Leben und leben lassen
Dabei steht St. Pauli für viel mehr als Rotlicht. Die Landungsbrücken gehören dazu und der Hafen, das Karoviertel, der Park Planten un Blomen, das Heiligengeistfeld - und natürlich auch der St.-Pauli-Fischmarkt, obwohl der streng genommen auf Altonaer Gebiet liegt. Aber die Geografie allein reicht ohnehin nicht aus, um den Stadtteil zu umreißen. Denn das Besondere hier sind die Menschen.
Wer es auch mal schrill und alternativ mag und ansonsten das Motto der Menschen in diesem Teil Hamburgs - leben und leben lassen - beherzigt, der ist willkommen und schnell integriert. Herkunft und Hautfarbe sind egal. "Was mich immer an den Deutschen gestört hat, dieser Neid, diese Missgunst, Wutanfälle beim Verlieren und Respekt nur für die Sieger - das habe ich auf St. Pauli nie erlebt", sagt die Autorin Peggy Parnass.
St. Paulianer sind vielleicht nicht so hanseatisch wie andere, aber ein echter Hamburger riecht immer auch nach Hafen und nicht nur nach Alster. Der Schauspieler Manfred Steffen (1916-2009) hat es so erklärt: "Kumm mi nich an de Farv, sagt der Mann im Hafen - und meint genau das, was unter dem Hamburger Wappen steht: ,Libertatem quam peperere maiores digne studeat servare posteritas'" ("Die Freiheit, die die Väter erwarben, möge die Nachwelt würdig zu erhalten trachten"). Diese inneren Ansichten werden meist vergessen, wenn es um die "geile Meile" (Udo Lindenberg) geht.
Magnet für Kreative
Die Glitzerwelt aus Rotlicht, die Party- und Saufgelage à la Ballermann, die Musik-Clubs, die Theater und das Gruseln über Gewaltgeschichten, wie beispielsweise die vom "St.-Pauli-Killer" Werner Pinzner, der 1986 fünf Zuhälter, einen Staatsanwalt, seine Frau und sich selbst erschoss, locken an guten Tagen bis zu 100 000 Besucher an. Sie haben unter anderem die Auswahl zwischen mehr als zwölf geführten St.-Pauli-Touren - auch durch die Herbertstraße, eine Gasse voller Bordelle, zu der nur Männer Zutritt haben. Einige Führungen gehen auch auf die Geschichte ein: zum Beispiel auf die Reepschläger (Seilmacher). Die kamen Mitte des 17. Jahrhunderts und gaben der Reeperbahn ihren Namen. Um die gleiche Zeit eröffneten dort die ersten Amüsierbetriebe. Von 1860 an entwickelte sich St. Pauli nach der Aufhebung der Torsperre nördlich der Reeperbahn zu einem dicht besiedelten Viertel. Als es 1894 zum Hamburger Stadtteil wurde, lebten dort 72 000 Menschen, meist in Kleinwohnungen. Das Geschäft mit dem Amüsement war um die Jahrhundertwende auch stark gewachsen. Die Buden wurden später (auch am Spielbudenplatz) durch feste Häuser für Theater, Zirkus, Trinkhallen und Vergnügen ersetzt.
Heute leben auf St. Pauli etwas mehr als 21 000 Menschen. Und das sind zum größten Teil ganz normale Menschen, die absolut nichts mit Rotlicht zu tun haben. Es ist ein durch und durch lebendiger Stadtteil, der bei jungen Menschen besonders beliebt ist. Vor allem bei Künstlern, Freiberuflern und allen, die sich zu den Kreativen zählen, ist St. Pauli angesagt. Rasanter Anstieg der Mieten ist die Folge. Das Gespenst der Gentrifizierung geht hier schon länger um. Doch die Paulianer verteidigen ihr Quartier mit Inbrunst. Am heftigsten ging es in den 80er-Jahren am Hafen zu.
Shoppen rund um die Uhr
Die Hafenstraße bezeichnet den Ort des Kampfes um die vom Abriss bedrohten Saga-Häuser, die 1981 besetzt und 1988 der Genossenschaft "Alternativen am Elbufer" übergeben wurden - für den politischen Preis von 2,4 Millionen Mark. Das Karoviertel zwischen dem Heiligengeistfeld und dem Fernsehturm ist nach der Karolinenstraße von 1843 benannt und entwickelte sich zum beliebten und für viele auch noch alternativen Wohnviertel, mit den Szene-Läden der Marktstraße.
Die "Esso-Häuser", benannt nach der Tankstelle am Spielbudenplatz, sorgen für Aufsehen, weil sich deren Bewohner seit 2009 gegen den Abriss der Gebäude wehren. Die Tankstelle selbst ist bundesweit als Treffpunkt für Nachtschwärmer bekannt, die sich dort an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr vor allem mit Getränken eindecken. Unter Fußballfans steht St. Pauli für den 1910 gegründeten etwas anderen Traditionsverein, der seine Heimspiele am Millerntor austrägt.
Beliebteste Attraktion Deutschlands
Für viele Besucher endet ein Kiez-Bummel am Sonntagmorgen traditionell auf dem Fischmarkt an der Großen Elbstraße (geöffnet: April-Oktober von 5-9.30 Uhr, November-März von 7-9.30 Uhr) oder an den Landungsbrücken. Acht Millionen Besucher jährlich machen die Landungsbrücken zur meistbesuchten Touristen-Attraktion in ganz Deutschland.
Hier ist das Tor zur Welt mit dem Blick auf die Werft Blohm + Voss und den Elbstrom, viele (historische) Schiffe sowie Kioske und Restaurants auf schwimmenden Pontons. Die Landungsbrücken entstanden an der Wende zum 20. Jahrhundert als Schiffslandestellen für die seegängigen Dampfschiffe sowie als An- und Ablegestelle für die im Hafen Beschäftigten. Auch heute noch gehören die Hadag-Schiffe, die im öffentlichen Nahverkehr fahren, zu den billigsten Möglichkeiten, den Hafen kennenzulernen. Die Tageskarte für fünf Personen kostet 2012 weniger als zehn Euro.
+++ Der Stadtteil-Pate: Matthias Rebaschus +++
In den 50er-Jahren wurden die Pontons als Betonkonstruktion mit dem Oberdeck neu gebaut. Das Oberdeck (die obere Plattform) ist der beliebteste Platz beim Hafengeburtstag - einem Volksfest, das seit 1977 Millionen von Besuchern anlockt. Genau wie der Dom auf dem Heiligengeistfeld, das größte Volksfest Norddeutschlands, ist der Hafengeburtstag in Hamburg eine Institution. Und ein riesiges Freizeitvergnügen, das auch die Möglichkeit bietet, Menschen kennenzulernen. Der Duft von Hafen, Freiheit und Abenteuer beschleunigt dies.
Die Serie finden Sie auch unter www.abendblatt.de/stadtteilserie
In der nächsten Folge am 7.5.: Lokstedt