Hamburg. Tausende Nicht-EU-Bürger haben keinen Zugang zum Gesundheitssystem. In einer Praxis auf St. Pauli werden sie versorgt und beraten.

Über die Patientinnen und Patienten, die in ihre Praxis Andocken kommen, weiß Ulrike Jaenicke kaum etwas. Es sind Menschen aus Nicht-EU-Ländern, die ohne gültige Aufenthaltspapiere in Hamburg leben, in ständiger Angst vor Abschiebung, ohne Krankenversicherung und damit ohne Zugang zum Gesundheitssystem. In der Praxis der Diakonie an der Bernstorffstraße (St. Pauli) werden sie von ehrenamtlichen Ärztinnen und Ärzten allgemeinmedizinisch und gynäkologisch versorgt – anonym. Zudem erhalten sie eine umfassende Sozialberatung.

In „Komplizen für die Zukunft“, dem gemeinsamen Podcast der Hamburger Volkshochschule und des Abendblatts, spricht Praxisleiterin Ulrike Jaenicke (60) über …

… die gesundheitlichen Probleme, mit denen die Menschen in die Praxis Andocken kommen:

„Letztendlich sind es die gleichen, die wir aus einer ganz normalen hausärztlichen Praxis kennen, wobei wir feststellen: Sie gehen seltener zum Arzt. Wir behandeln teilweise Frauen, die noch nie beim Gynäkologen gewesen sind. Die meisten Menschen kommen erst, wenn ihr Gesundheitszustand auch schon schlechter geworden ist, wenn Bluthochdruck oder Diabetes beispielsweise schon schwer chronifiziert sind. Wir haben Frauen, die mit Myomen – Geschwülsten in der Gebärmutter – kommen, die so groß sind, wie unsere Frauenärztinnen sie noch gar nicht gesehen haben. Viele dieser Menschen haben einfach nicht die Möglichkeit, frühzeitig einen Vorsorgetermin wahrzunehmen. Wir selbst können sie leider nicht anbieten.“

… die Überweisung von Patienten an Facharztpraxen:

„Das ist kompliziert und nicht problemlos, aber möglich. Die Hansestadt Hamburg hat für dringend notwendige Behandlungen einen Fonds bereitgestellt, der von der Clearingstelle verwaltet wird. Wir schicken die Patientinnen, die weitere Behandlungen brauchen, an die Clearingstelle, geben ihnen einen Arztbrief mit. Die Clearingstelle verteilt sie dann an die Facharztpraxen. Das Problem ist, dass es häufig lange dauert, manchmal ein halbes Jahr, bis es zur notwendigen Folgebehandlung kommt, und Krankheiten dadurch verschleppt werden.“

Praxis Andocken: So leben Menschen ohne Papiere in Hamburg

… die Sorge der Patienten, abgeschoben zu werden:

„Für sie besteht keine Gefahr. Es gibt ganz klar ein Recht auf Gesundheit in Deutschland aufgrund der UN-Menschenrechtskonvention. Wir haben auch eine ganz klare Absprache mit der Behörde, dass Menschen aus gesundheitlichen Gründen nicht abgeschoben werden dürfen. Wir befürchten auch niemals, dass beispielsweise die Polizei bei uns an der Tür steht. Dennoch ist natürlich die Skepsis sehr groß. Die Menschen haben immer Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden. Für viele ist es beispielsweise auch ein Risiko, mit der U-Bahn oder S-Bahn zu fahren. Wir haben wahrscheinlich die wenigsten Schwarzfahrer unter diesen Menschen, weil sie natürlich auf gar keinen Fall entdeckt werden wollen.“

Diakonie-Praxis AnDOCken
Gynäkologin Angelika Steenbeck-Breuer untersucht in der Praxis Andocken eine schwangere Patientin. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

… den Alltag von Menschen ohne Papiere in Hamburg:

„Wir wissen sehr wenig, auch weil wir versuchen, eine möglichst große Anonymität zu gewährleisten. Wir kriegen mit, dass sie in Communitys leben, bei Freunden von Freunden, dass sie manchmal auch nachts in Moscheen unterkommen, wo sie schlafen können, um aber dann am Tag rausgehen zu müssen, weil die Moschee für anderes genutzt wird. Frauen leben häufig in Abhängigkeitsverhältnissen von Männern. Eine Frau aus Mexiko berichtete uns, dass sie in den frühen Morgenstunden Büros reinigte, dann in Privathaushalten putzen ging. In einem Haushalt arbeitete sie auch als eine Art Nanny und kümmerte sich um die Kinder, wenn die von der Kita oder der Schule kamen. Nachmittags legte sie sich eine Stunde hin, um dann zum frühen Abend in Kneipen zu gehen, wo sie die Bedienung übernahm oder auch die Reinigung in der Küche. Sie selbst sei nach Deutschland gekommen, um die Operation ihres Kindes zu finanzieren, und sie versorgte auch ihre Eltern mit.“

… den Bedarf an medizinischer Versorgung für Menschen ohne Papiere:

„Laut einer Studie der Diakonie von 2009 lebten hochgerechnet 22.000 Menschen ohne Papiere in Hamburg. Wir gehen davon aus, dass es heute viel, viel mehr sind, weil seitdem die Armut zugenommen hat und die klimatischen Verhältnisse in anderen Ländern sehr viel schwieriger geworden sind. Wir sind nicht die einzige Praxis, aber allein bei uns werden jährlich 600 Menschen versorgt. Die Zahl wird dadurch begrenzt, dass wir nur zu bestimmten Zeiten geöffnet haben und mit Terminen arbeiten. Durchschnittlich kommen die Menschen fünf- bis sechsmal pro Jahr zu uns. Viele aber nur für ein paar Jahre, danach wissen wir nicht: Sind sie zurückgegangen? In eine andere Stadt weitergezogen? Haben sie vielleicht doch eine Duldung bekommen?“

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„Viele Menschen werden bei uns das erste Mal gehört“

Komplizen für die Zukunft

… die Bedeutung der Praxis für die Patienten:

„Sie ist sehr hoch, insbesondere für die Schwangeren. Für sie sind wir manchmal die erste Anlaufstelle überhaupt. Wir hatten gerade eine Frau, die in der 34. Woche schwanger war und noch überhaupt nicht beim Gynäkologen gewesen war, geschweige denn irgendeine Information zu Duldungsrecht oder Ähnliches bekommen hatte. Die Praxis ist eine Art Anlaufstelle. Sie werden das erste Mal gehört. Sie bekommen bei uns auch eine umfassende Sozialberatung, gerade zum Thema Duldung und Aufenthalt in Deutschland aufgrund von Krankheit. Und wir bemühen uns wirklich, jeden Menschen mit einem Lächeln zu empfangen. Wir haben eine wirklich gute Stimmung in der Praxis, versuchen immer, auf jedes Anliegen einzeln einzugehen, um ihnen das Gefühl zu vermitteln: Ihr seid willkommen, und hier findet ihr Hilfe.“

… eine effizientere medizinische Versorgung für Menschen ohne Papiere:

„Ein Modell wäre ein anonymer Krankenschein, der in zentralen Stellen wie der Praxis Andocken ausgestellt wird. In anderen Städten wird das Clearingstellen-Modell weiter ausgearbeitet, das aus unserer Sicht aber eine Klassenmedizin darstellt, weil wir mit ehrenamtlichen Ärztinnen und Ärzten arbeiten und immer erst einen Antrag auf Behandlung stellen müssen. Sinnvoller wäre aus unserer Sicht, über einen anonymen Krankenschein oder ein 24-Stunden-Schein Zugang zum regulären Gesundheitssystem herzustellen.“

Wie die Verständigung mit den Patienten läuft und wie sich die Praxis Andocken 2025 in den Bürgerschaftswahlkampf einmischen will, erfahren Sie ebenfalls im Podcast. Im Rahmen der VHS-Reihe „Komplizen für die Zukunft“ können Sie Praxis Andocken am 3. Dezember besuchen. Anmeldungen (6 Euro) auf der Seite der Hamburger Volkshochschule.