Hamburg. Hamburg kam damals billig in den Besitz der Elbinsel. Ein verarmter Graf hatte sie verpfändet und konnte sie nicht mehr auslösen.
Der Schuldner ist ein armer Adelsmann, der Gläubiger ein reicher Handelsherr, das Pfand eine Insel in strategischer Lage direkt vor Hamburgs Türmen und Toren: Vor 575 Jahren, im April 1445, übereignen Graf Otto II. von Holstein-Pinneberg und der Textilkaufmann Erich von Tzeven die nördliche Hälfte von Finkenwerder der Hansestadt gegen Erlass und Erstattung unbezahlbar hoher Außenstände.
Der spätmittelalterliche Grundstücksdeal zwischen drei Parteien sichert der aufstrebenden Elbmetropole eine Immobilie von unschätzbarer wirtschaftlicher und militärischer Bedeutung: Die Insel versorgt Hamburg mit Lebensmitteln, schützt die Schifffahrt auf dem großen Strom und nimmt später Hafenanlagen, Werften und Fabriken auf den breiten Buckel.
Heute ist das Vogelparadies ein Hotspot großstädtischen Lebens in der Elbe Auen: Airbus oder Blohm + Voss schaffen für Arbeitsplätze und Prestige, der legendäre Gorch Fock dichtet sein Ruhmeslied der deutschen Hochseefischerei, die Finkenwerder Scholle labt die Mägen und die Finkwarder Speeldeel das Gemüt.
Ursprünglich sind es sogar zwei Inseln
Damals aber ist der „Vinkenwerder“ über weite Strecken wüst und leer. Ursprünglich sind es sogar zwei Inseln. „Der südliche der beiden Werder entstand wahrscheinlich nach und nach aus der Süderelbe, während der nördliche sich aus der Norderelbe herausbildete“, vermutet Friedrich Wilhelm Bodemann 1860 in seinen „Denkwürdigkeiten der Elbinsel Finkenwerder, sowie der benachbarten Eilande“. Mit der Zeit wachsen die Werder immer mehr zusammen, bis sie nur noch eine schmale Elbrinne, die „Landscheide“, trennt.
Die „Vinken“ sind Bekassinen, mittelgroße Schnepfenvögel, die im Frühjahr und Herbst zu Tausenden einfliegen, um im Schutz der Schilfflächen zwischen den zahllosen Wassergräben zu rasten oder brüten. Die ersten Siedler sind Flüchtlinge, die sich im 11. Jahrhundert in der Sumpf- und Wasserwildnis mitten in der Elbe vor räuberischen Wikingern und aufständischen Slawen in Sicherheit bringen. Auf der „rauen, unwirtlichen Insel“ finden sie „nur einen höchst armseligen Aufenthalt“, können aber immerhin mit den Watvögeln die Töpfe füllen wie einst die Israeliten mit den Wachteln auf dem Sinai.
Immer mehr Ländereien gehen an aufstrebende Bürger über
Später stellen die ersten Bauern ihre Häuser auf flutsichere Wurten über den regelmäßig überschwemmten Kuhweiden. Namen wie Fock, Cölln oder Eitzen zeigen, dass sie von den Niederländern stammen, die damals „Franken“ genannt werden und das Alte Land kolonisieren.
„Denn zu jener Zeit verstanden die betriebsamen und arbeitslustigen Holländer, welche ihr Land ja auch erst dem Meere abgewonnen hatten, fast allein die Kunst, moorichte Marschländer durch Anlege von Schleusen trocken und fruchtbar zu machen“, schreibt Pastor Bodemann in seiner Chronik. „Hiernach erklärt es sich auch, dass Kleidertracht, Sitte und Brauch, ja selbst der Charakter noch immer das holländische Gepräge unverkennbar in sich trägt, wenngleich auch die holländische Sprach- und Ausdrucksweise der sächsischen hat weichen müssen.“
Im Jahr 1125 gibt Kaiser Heinrich V. dem Grafen Adolf von Schauenburg die Länder nördlich der Elbe zum Lehen: Holstein und Stormarn. Sechs Linien von Nachfahren teilen das Erbe unter sich auf. Finkenwerder-Nord fällt an die Grafen von Holstein-Pinneberg. Den Süden übernehmen die etwas weiter entfernten Grafen von Holstein-Itzehoe. 1265 überlässt ihn Graf Gerhard seiner Tochter Luitgard als Mitgift. Sie heiratet Herzog Johann von Braunschweig-Lüneburg, da passt auch die geografische Nähe, denn die Salzhändler aus der Heide sind schon lange auf und an der Elbe unterwegs. Die Braut ist eine Urenkelin Birger Magnussons, des Gründers von Stockholm.
Der Adel verarmt im 15. Jahrhundert allmählich
Als der Adel im 15. Jahrhundert allmählich verarmt, gehen immer mehr Ländereien an das aufstrebende Bürgertum über. Nach einer verheerenden Sturmflut verpfändet Graf Otto II. von Holstein-Pinneberg 1427 die nördliche Inselhälfte für einen Kredit von 1200 rheinischen Gulden (etwa 550.000 Euro) an einen reichen Handelsmann. Nach der Chronik des Pastors Bodemann handelt es sich bei dem Schuldner um einen „hochadeligen Herrn“, der „sehr fühlbar an einem Überflusse von Geldmangel litt“. Doch auch sein Gläubiger entstammt einer namhaften Familie: Die von Tzeven sind im Tuchimport aus Flandern reich geworden, haben schon drei Ratsherren und zwei Bürgermeister ins Rathaus geschickt und führen genauso sorgfältig Stammbäume wie der Adel.
Erich II. von Tzeven reist als Gesandter zu Kaiser und König, richtet über Strandräuber und Piraten, rüstet Kriegskoggen für die Hanse aus und behält bei alledem das Wohl seiner Heimatstadt fest im Blick. Vor dem Immobiliendeal um Finkenwerder hat der tüchtige Kaufmann nach Bodemanns Chronik bereits die Fähre nach Blankenese, eine Weide bei Ochsenwerder und „nicht minder einige Koppel bei Uetersen und die Mühle zu Dockenhusen pfandweise an sich gebracht“.
Nordhälfte wird eingedeicht
Der Kreditvertrag sichert dem Ratsherrn alle Rechte und Einkünfte der nördlichen Inselhälfte. Dazu gehören auch die Abgaben aus dem Vogelfang: Seit dem frühen Mittelalter stehen auf Finkenwerder Netze, in denen sich jedes Jahr Tausende Bekassinen verfangen. Die Schnepfen werden mit Speck gebraten und mit Wacholderbeeren gewürzt.
Der Kredit darf frühestens nach 20 Jahren zurückgezahlt werden. Danach sollen die Herrschaftsrechte an den Grafen zurückfallen. Doch Otto II. ist immer noch pleite. Schon zwei Jahre vor Termin gibt er die Insel auf. Doch die misslichen Entwicklung wird zu einer Win-win-Situation: Im April 1445 tritt der Graf sein Einlösungsrecht an Hamburg ab und ist seine Schulden los. Der Tuchhändler bekommt darauf vom Magistrat sein Geld zurück, und die Stadt beginnt alsbald mit dem Ausbau ihrer Neuerwerbung: Die Nordhälfte wird eingedeicht und durch ein Wehr mit der Nachbarinsel Dradenau verbunden.
„Erst unter Hamburgs Einfluss und Schutz konnte die Fischerei und Seefahrt der nördlichen Insel ihre heutige Bedeutung erlangen“, schreibt der Heimatforscher Egon Schneider 1909 in seinem Standardwerk „Die Insel Finkenwerder. Ein Beitrag zur geographischen Landeskunde“. Das Holz für die nötigen Deiche und Wehre aber holen die Hamburger für gutes Geld aus den Wäldern des Grafen von Pinneberg.
Insel in der Elbe
- 1236 Finkenwerder wird erstmals urkundlich erwähnt.
- 1814 Der Südteil geht vom Herzogtum Braunschweig an das Königreich Hannover über.
- 1866 Der Südteil wird wie ganz Hannover preußisch.
- 1919 Der Nordteil erhält offiziell den Status eines Hamburger Vororts.
- 1937 Durch das Groß-Hamburg-Gesetz fällt auch der Süden an Hamburg, und die Insel ist nach Jahrhunderten wieder vereint.
- 1962 Nach der größten Sturmflut der Neuzeit wird Finkenwerder mit dem Festland verbunden und ist keine Insel mehr.