Kleiner Grasbrook. Ralf Vaust und seine Frau blieben in HHLA-Wohnung – und sind die letzten Bewohner des Hafenareals, in dem das olympische Dorf gebaut werden soll.

Am Sonntag war er mit seiner Frau am Wasser spazieren. So wie jeden Sonntag. Ralf Vaust liebt diesen Blick rüber zur HafenCity, wo sich das Bild laufend verändert und jetzt der helle Sand zu sehen ist, der dort für den Weiterbau des neuen Stadtteils von Baggern aufgewühlt wurde. Die Stadt wächst heran – und wird es wohl mit der Olympia-Bewerbung für 2024 bald noch mehr, als es dem 80-Jährigen lieb ist. Seit 38 Jahren wohnen die Vausts schon in einer Betriebswohnung, hier haben sie ihren Sohn aufgezogen und genossen die Abgeschiedenheit mitten im Hafengebiet, wo das Wohnen eigentlich nicht erlaubt ist. Als „Robinson vom Kleinen Grasbrook“ hat ihn das Abendblatt schon einmal beschrieben. Während früher noch häufiger Hausmeister in Betriebswohnungen der Hafenschuppen wohnten, gibt es heute so gut wie kaum jemanden, der im Hafen seinen offiziellen Wohnsitz hat. Zwar führt die Statistik rund 1200 Bewohner des Kleinen Grasbrooks auf, doch die wohnen eigentlich auf der Veddel, weil ihr Wohnblock an der Harburger Chaussee nur statistisch, nicht gefühlt, zu diesem Stadtteil zählt und auch außerhalb des eigentlichen Hafengebiets liegt. „Wir sind tatsächlich die letzten richtigen Kleinen Grasbrooker“, sagt Vaust, der auch blieb, als der letzte Nachbar in seinem roten Wohngebäude am Überseezentrum starb.

Er mag eben diese Einsamkeit, die nur tagsüber von den Menschen, die hier arbeiten, unterbrochen wird. Nach Feierabend aber, da sind die Vausts alleine, teilen sich das Elbufer an den Freihafenbrücken höchstens mit ein paar Anglern. „Man kann sich mit niemanden erzürnen“, sagt Vaust zu den Vorteilen dieser Abgeschiedenheit. Zum Einkaufen fährt er zur Veddel oder nach Rothenburgsort, sonst aber reicht ihm seine 75 Quadratmeter große Betriebswohnung allemal, wo er nach der Rente bleiben konnte. Für den städtischen Umschlagbetrieb HHLA hatte er dort Gabelstapler repariert. Das Gebäude ist Teil des sogenannten Überseezentrums im Hafen: Ein gigantischer Lagerhaus-Komplex mit riesigem Vordach. Waren werden hier gelagert, umgeschlagen. Lkw fahren an und wieder ab, und abends ist Ruhe.

Das Areal gehört wie die Fläche des großen Autoterminals daneben der Stadt. Und die will hier nun das olympische Dorf bauen, sollte Hamburg 2024 oder 2028 die Spiele ausrichten. 3000 Wohnungen sind hier geplant, wo zunächst die Sportler und später ganz normale Hamburger wohnen sollen. „Olympic City“, so soll das alte Hafenareal einmal heißen. Die Hafenbetriebe, so der Plan, sollen dazu verlagert werden, weiter nach Westen. Und auch Ralf Vaust und seine Frau müssten dann wohl verlagert werden, wie er jetzt befürchtet. Noch haben sie aber keine Kündigung erhalten, wissen nicht, wann und was auf sie zukommt. „Wir haben noch nix gehört“, sagt er. Eine Ungewissheit, die sie in ihrer kleinen Insellage schon mehrmals erleben mussten. So hatte sich Hamburg schon einmal für olympische Spiele gerüstet, scheiterte 2003 in der nationalen Bewerbung an Leipzig, das aber doch nicht Olympia-Stadt wurde.

Für den Kleinen Grasbrook gab es schon viele hochfliegende Pläne

Dann gab es Pläne des Hamburger Star-Architekten Hadi Teherani für eine „Living Bridge“, für eine Brücke mit Wohnhäusern, die dort enden sollte, wo Vaust noch immer wohnt. Später diskutierte die Stadt, ob man nicht die marode Universität auf dem Kleinen Grasbrook völlig neu bauen sollte. SPD-Politiker wie der heutige Mitte-Bezirksamtsleiter Andy Grote stellten zudem die Vision eines „Wissenhafens“ vor, der die Ansiedelung neuer Hightech-Betriebe auf dem Gelände des Überseezentrums ermöglichen sollte.

Doch außer einem kleinen Schrecken hatten all diese Pläne für Ralf Vaust jedes Mal keine Auswirkungen, und er blieb dort wohnen. Irgendwann einmal, das ahnte er wohl, würde es aber eine Veränderung auf dem Kleinen Grasbrook geben, der im Laufe der Jahrhunderte sein Bild eben oft schon gewechselt hatte.

Bis ins 18. Jahrhundert war der Grasbrook eine Weidelandschaft, wo in einer sumpfigen Landschaft Bauern lebten. Durch einen Grabendurchbruch war im 16. Jahrhundert bereits der Kleine vom anderen Grasbrook abgetrennt worden und blieb daher lange vom Wachstum der Stadt verschont.

Ende des 18. Jahrhunderts aber begann Hamburg, dort erste größere Hafenanlagen zu bauen, 1871 wurde der Kleine Grasbrook erst Vorort der Hansestadt, 1894 dann sogar ein eigener Stadtteil. Noch um 1900 prägten dort die hohen Masten der Windjammer im Segelschiffhafen das Gesicht dieses damals neuen Hafenareals.

Heute allerdings hat sich viel vom Hafen-Geschehen weiter nach Westen verlagert. Die großen, tiefgehenden Containerschiffe kommen so weit gar nicht mehr den Fluss herauf und laufen die großen Terminals vor dem Alten Elbtunnel an. Autos werden auf dem Kleinen Grasbrook aber noch verladen, Kühlschiffe mit Überseefrüchten machen dort fest und viele Exportwaren werden eben im Überseezentrum gelagert, das immerhin 100.000 Quadratmeter überdachte Fläche bieten kann.

Allerdings gab es hier an den Freihafenbrücken an der Straße Schumacherwerder bis Anfang des 20. Jahrhunderts auch schon einmal ein Freibad an der Elbe. Insofern knüpft das Olympiakonzept an frühere, eher sportliche Nutzungen dort an. Nur für Ralf Vaust würde es dann dort keinen Platz mehr geben. Noch aber genießt er die Abgeschiedenheit seiner Wohn-Insel. So lange es eben noch geht.