Tausende Computerexperten und Internetaktivisten trafen sich in Hamburg beim Chaos Computer Club. Ein Thema beherrschte den Kongress: Wie reagiert die Szene auf die Berichte über die allumfassende Überwachung durch Geheimdienste?
Die Parallelwelt beginnt hinter den getönten Scheiben des Congress Centers am Dammtor. Aus aller Welt sind sie angereist, die Informatiker, Hacker und Nerds, die jetzt geduldig in langen Schlangen vor den Kassen anstehen. Die Uniformität ihrer überwiegend dunklen Kapuzenjacken erinnert frappierend an den schwarzen Block der Autonomen, nur dass diese zumeist jüngeren Leute hier weder Pflastersteine noch Eisenstangen mit sich führen, sondern leistungsfähige Laptops. Damit kann man die Welt sicherlich nachhaltiger verändern, doch in welche Richtung, das wollen die rund 8000 Teilnehmer des „30C3“, so das Kürzel für den 30. Chaos Communication Congress, an vier Tagen erst einmal gemeinsam erarbeiten.
Vor 30 Jahren rief der Chaos Computer Club (CCC) 1984 zum ersten Mal die Hacker der Welt zusammen, damals noch ins Eidelstedter Bürgerhaus. Es war eine zum Teil belächelte, aber auch misstrauisch beäugte Truppe, weil deren Tun nur von den wenigsten Leute verstanden wurde und ihre Visionen allzu fantastisch klangen. Aber die technische Entwicklung schritt schneller voran als gedacht. Und die Visionen erfüllten sich auf eine für viele erschreckende Weise – eine ausufernde, staatliche Überwachung bei gleichzeitig schwindendem Datenschutz. „Durch die Snowden-Enthüllungen haben jetzt viele gesehen, dass wir die ganzen Jahre nicht gesponnen haben“, sagt Frank Rieger vom CCC. Und sein Mitstreiter Tim Pritlove, der mit 16 Jahren schon in Eidelstedt dabei war und diesen Jubiläumskongress eröffnete, fügt hinzu: „Es hätte uns jedoch nicht missfallen, nicht Recht gehabt zu haben. Niemand von uns legt darauf besonderen Wert, und deshalb nähern wir uns der Problematik auch nicht nach der ‚Das-haben-wir-euch-doch-schon-immer-gesagt-Rhetorik‘ Nein, recht zu haben ist nicht immer schön.“
Pritlove, 46, der im Hauptberuf als Podcaster und Blogger arbeitet und den Kongress in den vergangenen neun Jahren maßgeblich mitorganisiert hat, erinnert in seiner Körpersprache ein wenig an den Apple-Mitbegründer Steve Jobs, wie er über die Bühne des voll besetzten Saals Eins tänzelt und den Kongressteilnehmern erst einmal erklärt, dass diese Jubiläumsveranstaltung kein Motto besäße. Man sei aufgewacht, sagt er, aus einem schlechten Traum und könne die Realität nicht mehr ignorieren. „Das, was man bisher nur aus Hollywood-Filmen kannte, passiert jetzt. Man muss sich daher ernsthaft die Frage stellen: Ist das Spiel jetzt vorbei? Macht deshalb immer das, was euch eure Herzen sagen. Ihr seid alles Päpste. Seid ein Teil der Lösung. Carpe Noctem: Nutze die Nacht!“
Es ist eine Anspielung auf das Schlaf- und Ernährungsverhalten des Hackers: Wenig Schlaf, viel Fast Food und koffeinhaltige Club-Mate-Limonade zum Wachbleiben. Gelächter und Applaus branden auf, aber die gute Laune verfliegt sofort, als ein Kameramann der Deutschen Welle einen Schwenk übers Publikum versucht. Eine Totale für einen kurzen Nachrichtenbeitrag. Er müsse erst jeden einzelnen Kongressteilnehmer um dessen Einverständnis bitten, gefilmt zu werden, mahnt ein Ordner, da gäbe es keine Diskussion. Dann gebe es eben auch keine Bilder, erwidert der Kameramann. „Was mich persönlich sehr stolz macht – und ich glaube, so geht es auch vielen Leuten im Club – ist die Tatsache, dass der Kongress in seinem Wesen immer noch die alte Veranstaltung ist“, sagt Pritlove. Es sei noch immer derselbe Spirit und derselbe Zusammenhalt der Community, der sich nach den Enthüllungen noch verstärkt habe.
Die Kongressteilnehmer haben die Wahl zwischen vielen Dutzend Veranstaltungen, die sich prinzipiell jedoch alle um den ‚Snowden-Faktor“ drehen. Viele Redner waren direkt an den Enthüllungen beteiligt, die Hauptrede am Eröffnungstag hält der Journalist Glenn Greenwald, der per Video zugeschaltet sein wird. Greenwald war einer der ersten Reporter, denen der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Snowden Dokumente über die zuvor streng geheime Arbeit des US-Dienstes NSA und anderer Geheimdienste übergab. Auch der Wikileaks-Gründer Julian Assange soll in den kommenden Tagen per Video auftreten. „Informationen sind in dem Augenblick in Gefahr, wenn sie erfasst und übertragen werden“, sagt Pritlove. Man könne viel über Verschlüsselungen reden, aber auch das seien immer wieder neue Prozesse, über die man nachdenken müsse. So könne man sich vorstellen, dass Geheimdienstorganisationen so starken Einfluss auf die Technik hätten, dass sogar die Zufallszahl-Generatoren in den Prozessoren modifiziert würden, um die Verschlüsselungen bereits an ihrer Quelle aushebeln zu können.
Dieser Frage nachzugehen dürfte für vier lange Chaos-Tage im CCH sorgen. Schon zwei Stunden nach Beginn der Veranstaltung haben sich einige Teilnehmer in ihre Schlafsäcke eingemummelt, um vermutlich Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen. Es ist praktisch unmöglich, alle Veranstaltungen zu besuchen, auch dann nicht, wenn man die Nacht zum Tage macht.