Christine Genesis erhält den Hamburger Handwerkspreis. Als bester Betrieb werden in der Kammer die Elbtischler geehrt. „Die Sieger brillieren in ihren Tätigkeitsfeldern und erobern zugleich Neuland.“
Hamburg. Die Abendsonne wirft immer wieder auf den mittleren Vorhang im Großen Saal der Handwerkskammer ein charakteristisches Muster. Bäcker, Buchdrucker, Zimmerleute und Maurer zieren die dahinter liegende Fensterfront wieder, ihre Konturen zeichnen sich ab. Weitere Berufe sollen folgen. Die Kammer lässt die Fenster rekonstruieren, die im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren. Die Tradition soll in der Moderne weiterleben.
Am Dienstagabend herrscht unter den 150 geladenen Gästen Feierstimmung. Erstmals verleihen die Haspa und die Kammer den Hamburger Handwerkspreis. Auf einer Leinwand werden in Kurzfilmen die je drei Nominierten in zwei Kategorien vorgestellt. Als Betrieb des Jahres werden Die Elbtischler aus Stellingen ausgezeichnet, die den Friseursalon Jasminas Haarmonie aus Wandsbek und die Bauschlosserei Heher aus Rahlstedt in der Endrunde ausstechen. Als beste Handwerkerin setzt sich die Wilhelmsburger Uhrmachermeisterin Christine Genesis gegen Polsterin Marion Meseke aus Eimsbüttel und Dachdecker Steven Waluga aus Sasel durch. Handwerkskammerpräsident Josef Katzer lobt: „Die Sieger brillieren in ihren Tätigkeitsfeldern und erobern zugleich Neuland – zukunftsorientierte Geschäftsmodelle, die das Handwerk neu definieren.“ Und die Tradition mit der Moderne verbinden.
Rückblende: In ihrem Wilhelmsburger Atelier stoppt ein paar Tage zuvor Christine Genesis mit einer Pinzette ein Teil, das so dünn wie ein Haar ist und mit Tempo 140 um die eigene Achse schwingt. Die 48-Jährige baut aus einer Uhr eine Unruh aus. Gehalten wird die Welle von Zapfen, die nur wenige Hundertstel Millimeter dick sind. Das filigrane Uhrwerk besteht aus etwa 100 Teilen. Präzisionsarbeit ist gefragt – aber bei Genesis sieht alles spielerisch leicht aus. „Die kleinen Teile und ihr Zusammenspiel haben mich schon früh fasziniert“, sagt sie. „Bereits vor der Ausbildung wusste ich, dass ich meine eigenen Uhren bauen will.“
Sie machte eine Ausbildung an der Uhrmacherschule in Pforzheim, arbeitete danach ein paar Jahre bei verschiedenen Firmen in ihrer Heimat, dem Rheinland. 1997 ging sie nach Hamburg und fing einen Job bei einem Juwelier an. Dort lernte sie alle hochwertigen Marken und ihre Komplikationen – so heißen die Zusatzfunktionen – kennen. 2001 machte sie ihren Meister, drei Jahre später sich selbstständig und erfüllte sich damit ihren Lebenstraum. Heute bietet sie zwölf Modelle in unterschiedlichen Ausführungen an.
Genesis orientiert sich bei ihren Produkten an skandinavischen Zeitmessern und dem Bauhausstil. Qualität und ein klassisches, zeitloses und schlichtes Aussehen seien ihr wichtig. „In zehn Jahren sollen meine Kunden noch sagen: ,Ich habe eine schöne Uhr.‘“ Von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt vergeht etwa ein Jahr. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten Jürgen-Peter Lund zeichnet sie zunächst die Entwürfe und erstellt die Konstruktionspläne. Bei den Ziffernblättern werden Farben, Schriften und Schliffe festgelegt, bei den Zeigern Länge, Farbe und Form. Komplikationen wie Gangreserve, Tages- oder Mondkalender werden eingeplant. Anschließend wird das Gehäuse bearbeitet, dann das Uhrwerk montiert. Die Teile dafür bezieht sie aus der Schweiz von der Swatch-Tochter ETA. Im letzten Schritt werden dann alle Funktionen der Uhr kontrolliert. „Alles geht durch meine Hände, wird von mir entworfen und montiert“, sagt Genesis.
Für die Fertigung einer Uhr braucht sie etwa eine Woche. Jedes Modell wird mit einer Nummer versehen, jede Reihe limitiert, die Auflagen liegen zwischen 22 und 50 Stück. 1750 Euro müssen Kunden mindestens für eine Genesis-Uhr zahlen, 2800 Euro kostet das teuerste Modell. Allerdings sind bei Sonderanfertigungen nach oben keine Grenzen gesetzt. Für eine Uhr aus Massivgold zahlte ein Kunde auch schon gut 10.000 Euro. Über Händler sind die Uhren nicht erhältlich. „Ich verkaufe nur an Endkunden“, sagt Genesis. Rund fünfmal pro Jahr wirbt sie auf Messen und Ausstellungen für ihre Produkte.
Genesis brauchte einen langen Atem, bis sich das junge Unternehmen selbst trug. „Nach fünf bis sechs Jahren war ich profitabel.“ Die Anfangskosten waren hoch. Eine sechsstellige Summe habe sie in ihr Unternehmen gesteckt, finanziert von ihrer Familie. Für die Messeauftritte brauchte sie professionelle Fotos, musste Kataloge drucken lassen, für die Produktion schaffte sie viele Werkzeuge und Maschinen sowie ein großes Lager an, in dem sie mehrere Tausend Teile aufbewahrt. Denn der Zulieferer ETA nutze seine Marktdominanz gern aus, um das Angebot künstlich zu verknappen und Lieferungen hinauszuzögern. Da sie häufig Reparaturaufträge von Fremdfirmen erhält, muss sie aber viele Ersatzteile vorrätig haben. Etwa in jeder fünften Arbeitsstunde tauscht sie kaputte Teile aus. Mehrmals im Jahr bietet sie zudem Seminare an, in denen die Teilnehmer eine Uhr auseinander- und wieder zusammenbauen und das Gehäuse einen Schliff erhält.
Zurück in der Handwerkskammer: Von Haspa-Vorstandssprecher Harald Vogelsang erhält Christine Genesis den Preis überreicht. Ihre Zielstrebigkeit in der Lebensplanung habe ihn sehr beeindruckt, sagt Vogelsang. „Heute steht sie für Qualitätsprodukte made in Hamburg, deren Ruf bis nach China vorgedrungen ist. Ihr geht es nicht nur um Feinmechanik, sondern zugleich um Marke, Lifestyle, Inspiration und Kreativität.“ Genesis ist überrascht und freut sich „riesig – das ist eine große Ehre“. Von einem „Knaller“ spricht der zweite Preisträger des Abends. „Das ist unglaublich. Es ist eine schöne Bestätigung unserer Arbeit“, sagt Boris Breiding, der mit Florian von Tschammer 2004 die Elbtischler gründete. Von Tschammer nimmt den Preis entgegen und sagt: „Jetzt weiß ich, wie Brad Pitt sich bei der Oscar-Verleihung fühlt.“
Die Elbtischler statten Kitas und Kindergärten mit Möbeln aus. Haspa-Firmenkundenvorstand Frank Brockmann sagt: „Bislang waren Kita-Möbel vor allem klein und bunt. Dass hier viel mehr möglich ist, haben die Elbtischler eindrucksvoll unter Beweis gestellt.“ Schlafinseln für Kita-Kinder, Kletterstangen und Spielpodeste, die pädagogische Ansprüche erfüllen, gehören zum Programm der Firma. Mit dem Umzug an den Jacobsenweg in Stellingen 2008 ging es auf Wachstumskurs. Neben den Chefs sind heute auch ihre Ehefrauen, zehn Tischler und drei Auszubildende in der Firma, die knapp 1,2 Millionen Euro im Jahr umsetzt. Vor Kurzem wurde der Betrieb um 300 auf 800 Quadratmeter erweitert. In den vergangenen Monaten seien die Aufträge für Möbel um 30 Prozent gestiegen, die für Kitas um zwölf bis 15 Prozent, sagt Breiding. Einrichtungen aus Kiel, Cuxhaven und Baden-Württemberg fragen ihre Dienste an. Die Firma steht im Scheinwerferlicht. Selbst in einer Videoproduktion mischten die Elbtischler schon mit. Der Film zeigt die Eingewöhnung von Null- bis Dreijährigen in eine Kita. Der Titel: „Ganz nah dabei“. Sogar mittendrin waren die Preisträger von Tschammer, Breiding und Genesis bei der Feier. Bei Antipasti, Flusskrebsschwänzen, Tafelspitz, Kabeljaufilet und Fenchelgemüse wurde noch länger über das Handwerk und die Wirtschaft diskutiert.