Lange ein vergessenes Arbeiterquartier am Stadtrand hat sich Wilhelmsburg wie Williamsburg zum Stadtteil im Aufbruch entwickelt.

Vergleiche zwischen New York und Hamburg hört man eher selten. Dabei gibt es eine erstaunliche Parallele zwischen Big Apple und der Hansestadt: Hamburgs Stadtteil Wilhelmsburg erinnert nicht nur wegen seines Namens an den New Yorker Stadtteil Williamsburg. Lange ein vergessenes Arbeiterquartier am Stadtrand, geprägt von Hafenindustrie und Einwanderung, hat sich Wilhelmsburg wie Williamsburg zum Stadtteil im Aufbruch entwickelt.

Das heutige Wilhelmsburg, Europas größte Flussinsel, verdankt seine faszinierende geografische Struktur der letzten globalen Eiszeit vor Tausenden Jahren und der Kulturlandgewinnung von 1333. Seine Grenzen entstanden aber erst 1672, als der Herzog Georg-Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg-Celle die Insel kaufte und sie eindeichte.

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Spielwiese für Stadtplaner

Rund 300 Jahre später hielten die Deiche nicht stand, und Wilhelmsburg erlebte die größte Naturkatastrophe seiner Geschichte. Bei der schweren Sturmflut 1962 kamen auf der Elbinsel 222 Menschen ums Leben. Mit den Folgen der Katastrophe hatten die Wilhelmsburger jahrelang zu kämpfen. Hohe Arbeitslosigkeit und geringe Freizeitangebote machten den Bürgern schwer zu schaffen. Doch der Stadtteil hat sich aus seiner Lethargie befreit. Heute gilt die Insel zwischen der Ober- und der Süderelbe als Quartier, dem Stadtplaner ein enormes Potenzial zusprechen. Mithilfe der Internationalen Bauausstellung Hamburg (IBA) investiert die Stadt Millionen, um Wilhelmsburg aufzuwerten. Ein Beispiel: Den Flakbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, nach einem misslungenen Sprengungsversuch jahrelang ungenutzt, baut die IBA zu einem Energiebunker um.

Die Aufwertungsprojekte werden von den Wilhelmsburgern aber auch kritisch betrachtet. Denn es war der Stadtteil selbst, der sich dank engagierter Bürger und Kulturschaffender ohne Förderprogramme zu einem der interessantesten Orte Hamburgs entwickelte. Es sind die unglaubliche Vielfalt und die Kontraste, die Wilhelmsburg auszeichnen. Am einen Ende der Insel grasen die Schafe der Bauern von Moorwerder, am anderen Ende malochen die Arbeiter im Freihafen. Auf der einen Seite ragen die Hochhäuser der Siedlung Kirchdorf-Süd empor, auf der anderen Seite erinnert die alte Peter-Beenck-Straße mit ihren kleinen Häusern an die Arbeiterviertel von Nordengland. Und im Zentrum werden die idyllischen Seitenarme der Elbe von der mehrspurigen und viel befahrenen Wilhelmsburger Reichsstraße getrennt.

Früher Honig, heute Kunst

Als Symbol für die Veränderung in Wilhelmsburg gilt die Honigfabrik im Reiherstiegviertel. 1906 erbaut und als Produktionsstätte für Margarine und später für Honig genutzt, bildet sie seit 1979 das Kulturzentrum für den Stadtteil. Handwerk, Kunst, Kino, Literatur und Musik für alle Generationen finden hier statt. "Selbstbestimmung und eigenverantwortliches Handeln" sind die Leitmotive der Honigfabrik. Wenige Meter weiter an der Industriestraße liegt die Soulkitchen-Halle. Auch sie gilt als nicht kommerzielle Stätte für Kultur, Kunst und Geselligkeit. Die Halle, in der Regisseur Fatih Akin den gleichnamigen Film drehte, prägt gemeinsam mit der Honigfabrik die Atmosphäre des Reiherstiegviertels im Nordwesten von Wilhelmsburg. Mit seinen schönen Altbauhäusern und kleinen Cafés mauserte sich das Viertel zum beliebten Einzugsgebiet für Studenten.

Hinter dem Reiherstiegdeich hat sich seit 2007 ein weiteres Symbol des Wilhelmsburger Wandels entwickelt: das Dockville, eines der angesagtesten Open-Air-Festivals Deutschlands. Internationale, nationale, aber vor allem auch viele lokale Bands und Musiker spielen vor bis zu 20 000 Besuchern, die ein einmaliges Hafenpanorama erleben und sich selbst von Schlammwetter nicht den Spaß nehmen lassen. Das Festival definiert sich aber nicht nur über sein musikalisches Line-up. Die sogenannte Freihandelszone können Künstler aller Art als Ausstellungsfläche nutzen. Das Kunstcamp schafft zusammen mit dem Rockfestival die ganz besondere Dockville-Stimmung.


Der Stadtteil mit den meisten Brücken

Als Kontrast zum modernen Reiherstiegviertel gilt Kirchdorf-Süd. Die Hochhaussiedlung mit 5700 Einwohnern entstand 1974 an der Autobahnabfahrt Hamburg-Stillhorn. Abseits vom Wilhelmsburger Ortskern wirkt Kirchdorf-Süd wie ein eigener Stadtteil. Mithilfe der Stadt gelang es den Bewohnern des Quartiers, ein eigenes kulturelles und soziales Leben zu etablieren. Schulen, Kitas, Jugendzentrum, ein Sportverein und der benachbarte Kinderbauernhof füllen den Hochhausblock mit einer Seele.

Immer wieder stand Wilhelmsburg in der Vergangenheit in den Schlagzeilen: sozialer Brennpunkt, in dem es zu schwerwiegenden Vorfällen kam. Gleichzeitig setzen sich engagierte Bürger aller Nationalitäten tatkräftig mit vielfältigen Projekten für ihren Stadtteil ein.

Wer sich auf eine kleine Reise durch Hamburgs flächenmäßig größten Stadtteil begibt, stößt immer wieder auf lebendige Geschichte und historische Wahrzeichen. Die Windmühle Johanna, die Wilhelmsburger Wasserburg, die Kirchdorfer Sanddüne, die Harburger Elbbrücke von 1899, der Veringkanal - Historiker können sich in "Klein-Venedig" (kein Hamburger Stadtteil hat mehr Brücken) auf eine lange Spurensuche begeben.

Mehr Vielfalt geht nicht

Will man Wilhelmsburg in all seien Facetten erfassen, muss man die Insel entlang der Deiche und der unzähligen Grünanlagen und Kleingärten umrunden und durchqueren. An kaum einem Ort in Hamburg lassen sich die Blicke derart weiten. Das Naturschutzgebiet Heuckenlock in Moorwerder im Südosten des Stadtteils ist die grüne Lunge von Wilhelmsburg. Hier finden Hamburger einen der letzten Tideauenwälder Europas. Das Süßwasserwatt wird regelmäßig überflutet und ist auch deswegen das artenreichste Naturschutzgebiet Hamburgs. Bekannt ist Wilhelmsburg auch für die Bunthäuser Spitze. Hier teilt sich die Elbe in Norder- und Süderelbe.

+++ Der Stadtteil-Pate: Henrik Jacobs +++

Ob Wilhelmsburg für Hamburg in Zukunft eine ähnliche Bedeutung bekommt wie Williamsburg für New York, bleibt abzuwarten. Der Stadtteil verändert sich zurzeit durch die IBA und die Internationale Gartenschau (igs) auf eine eigene Art. Sein historisches Herz sollte sich Wilhelmsburg auf jeden Fall bewahren.

In der nächsten Folge am 25.4.: Sülldorf