Hamburg. Nachdem ihr Mann einen Schlaganfall erlitten hatte, engagiert sich Barbara Wentzel aus Othmarschen im Verein „Haus von morgen“.
Es ist eine Geschichte aus den Elbvororten, die Mut macht und Widerhall findet – weit über diese Stadtteile hinaus. Weil die Herausforderungen nach einem Schicksalsschlag enorm sind, nicht nur für die unmittelbar betroffenen, nunmehr gehandicapten Menschen. Hand in Hand gilt es, im völlig veränderten Leben einen neuen Sinn zu finden. Im Fall eines im Hamburger Westen verankerten Juristen, dessen Alltag binnen Sekundenbruchteilen aus den Fugen geriet, gibt es Hoffnung. Vom Ergebnis können andere profitieren.
Im Mittelpunkt stehen ein Schlaganfall, eine Familie aus Othmarschen, ein Buch couragierter Autorinnen, eine Preisverleihung sowie ein Sozialprojekt, das Sinn macht. Der Name ist Programm: „Haus für morgen“. Im Rahmen der Abendblatt-Aktion „Von Mensch zu Mensch“ wurde 2017 über die ersten Schritte berichtet.
Rückblick ins Frühjahr 2013. Ein Unglück stellt das bis dahin recht sorgenfreie Leben der fünfköpfigen Familie Wentzel auf den Kopf. Um 7.10 Uhr hören Ehefrau und Kinder einen dumpfen Knall im Badezimmer. Ehemann und Vater Henrik erleidet einen Schlaganfall. Der Notarztwagen kommt im Nu – mit Profis an Bord. In der für solche Notfälle spezialisierten „Stroke Unit“ des Krankenhauses Altona werden Rettungsmaßnahmen und Untersuchungen eingeleitet. In mehreren Operationen kann das Leben des damals 55 Jahre alten Hanseaten gerettet werden. Plötzlich ist nichts mehr so, wie es einmal war.
Durchschnittsalter der Betroffenen sinkt
Diagnose: „Ischämie im MCA-Gehirn.“ Ein winziges Blutgerinnsel hatte ein Gefäß verstopft und die Durchblutung des Gehirns gestört – mit dramatischen Folgen.
Das kann jedem passieren. Jederzeit. Im deutschsprachigen Raum werden pro Jahr rund 300.000 Schlaganfallpatienten registriert, davon etwa zehn bis 15 Prozent mit lebensgefährlichen Konsequenzen. Besonders erschütternd: Das Durchschnittsalter der Betroffenen sinkt immer mehr.
Die Folgezeit in der Familie Wentzel ist ein Kapitel für sich, ein ganzes Buch sogar. Das Tohuwabohu – körperlich, seelisch, finanziell – belastet auch das Umfeld enorm. Viele andere Familien kennen solche Strapazen aus eigener Erfahrung. Kleine Fortschritte, Rückschläge, Hoffnungsschimmer und dunkelgraue Wolken wechseln sich ab – in Windeseile. Tage, die zuvor als normal verbucht wurden, erscheinen im Nachhinein paradiesisch.
Anpackende Persönlichkeit
Es gibt unfassbare Probleme, doch stehen die Wentzels im Kern zusammen. Ehefrau Barbara, eine anpackende Persönlichkeit mit Herzblut und Kampfgeist, veröffentlicht ein Buch, das sie gemeinsam mit ihrer Freundin Miriam Collée geschrieben hat: „Käsekuchen mit Sauerkraut.“ Der Untertitel sagt alles: „Mein Mann, sein Schlaganfall und der ganze Irrsinn danach“. Ein solcher Blick in die Intimität einer Familie und die eigene Seele erfordert Mumm. Denn es zeigte sich zusehends, dass der Hirnschlag nicht nur einen Großteil der rechten Gehirnhälfte zerstört und seine linke Körperhälfte lahmgelegt, sondern gleichzeitig auch Henriks Wesen deutlich verändert hatte.
In Wentzels Fall sind Teile des Gehirns betroffen, die für Gefühle, Wahrnehmungen und das Einordnen von Raum, Zeit und Realität zuständig sind. Es handelt sich um die Region, in der Persönlichkeit und Sozialverhalten angesiedelt sind. Im Buch sind Details beschrieben, die auch dem Leser an die Nieren gehen. Die Autorinnen wollen anderen Betroffenen Mut machen. Die Botschaft und das Erlebte, schnörkellos wiedergegeben, stoßen auf viel Interesse. Bisher wurden mehr als 6000 Exemplare des im Piper Verlag erschienenen Werks verkauft. Ein Hörbuch ist auf dem Markt. Im Juni wird ein Taschenbuch erscheinen. Constantin Television plant eine Fernsehverfilmung.
„Wir sind auf gutem Wege“
So viel Aufmerksamkeit zahlt sich aus – im Interesse des Projekts „Haus für morgen.“ Weil der Bucherlös diesem Wohnprojekt für von Schlaganfällen betroffenen Menschen zufließt. Die Grundidee: solchen Personen mit erworbenen Behinderungen eine behütete Rückkehr ins Leben zu ermöglichen. In einem Umfeld ohne Krankenhausatmosphäre. Das Besondere dabei: Die Bewohner sollen das Gefühl haben, gebraucht zu werden, statt anderen eine Last zu sein. Autonomie und Wirtschaftlichkeit gehören entsprechend zu den Säulen des Projekts. „So etwas gibt es in Norddeutschland leider nicht“, weiß Barbara Wentzel. Sieben Freunde riefen einen eingetragenen, gemeinnützigen Verein ins Leben (siehe Beistück). Spenden halfen, ein Betreiberkonzept zu entwickeln, Architekten zu beauftragen und den Betrieb auf ein wirtschaftlich solides Fundament zu stellen.
„Wir sind auf gutem Wege“, sagt Barbara Wentzel. „Unsere Initiative stößt bei Pflegediensten und Bauunternehmungen auf offene Ohren.“ Gespräche mit Stiftungen, die eine passende Immobilie bereitstellen können, liefen an, brachten jedoch bisher noch kein konkretes Ergebnis. „Ist das passende Objekt da, sind wir binnen zwölf Monaten am Start“, fügt die Initiatorin hinzu.
Die bisherige Erfahrung des ehrenamtlichen Unterstützerkreises: „Unser Konzept trifft den Nerv der Zeit.“ Barbara Wentzel war mittlerweile Gast in der Talkshow des NDR, ist nicht nur in den Elbvororten bei Lesungen präsent, streitet auch hinter den Kulissen für die Umsetzung ihres Plans.
Wentzel kann wieder einige Schritte gehen
Im November vergangenen Jahres erhielt sie in Berlin den „Motivationspreis“ der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zählte zu den Ehrengästen.
Die beste Motivation indes ist die gesundheitliche Entwicklung Henrik Wentzels. „Er wird nie wieder gehen können“, hatten Ärzte unisono vermutet. Mit einer Gehhilfe schafft der 61-Jährige es jetzt jedoch, sich daheim mit Unterstützung aus dem Rollstuhl zu erheben und ein Stück Raum zu überwinden.
Nicht nur für ihn ist das wie ein Wunder, und es strengt immens an, aber es ist ein Fortschritt. Und er bringt Lebensfreude.