Hamburg. Das „Rising Stars“-Festival der Elbphilharmonie findet in diesem Jahr digital statt. Gesendet wird ab heute.
Das warme Licht schafft eine Illusion. Es schmiegt sich an die Wände, wie Spots Bäume von unten erleuchten, lebendig, unregelmäßig. Die Wände bestehen nämlich aus lauter Buckeln, sie gehören zum Kleinen Saal der Elbphilharmonie. Der optische Effekt war schon bald nach der Eröffnung des Hauses keine Überraschung mehr, aber dieses besondere Lichtkonzept suggeriert plötzlich einen Sommerabend im Süden. Und das Paillettenkleid der Geigerin Diana Tishchenko liefert den Sternenhimmel dazu.
Der Pianist schlägt die ersten Akkorde von Claude Debussys Violinsonate an. Wie Glocken klingen sie, und die Geigerin antwortet, traumverloren zunächst, dann bewegter, schüttelt mit lockerer Geste Girlanden über das ganze Griffbrett, zieht den Hörer mitten hinein ins Geschehen – und bricht mit einem mal ab. Ein unmerklicher Fehler im Zusammenspiel. „Können wir noch mal anfangen?“, bittet Tishchenko. „Das ist schade, wenn es gleich am Anfang passiert.“
Tishchenko und Gallardo spielen vor einem Dutzend Menschen
Es ist eben kein Konzert, was da gerade stattfindet. Jedenfalls kein Konzert von der Sorte, die wir die längste Zeit unseres Lebens normal fanden: Musiker und Publikum sind zur selben Zeit im Saal und erleben dasselbe aus unterschiedlichen Perspektiven. Tishchenko und ihr Klavierpartner José Gallardo spielen ihr Programm vor einem runden Dutzend Menschen. Vor ein paar Tontechnikern und Kameraleuten, vor der Produktionsleitung, dem Regisseur und der Reporterin. Statt der üblichen Sitzreihen verlieren sich nur ein paar einzelne Stühle auf den Rängen.
Tishchenko gehört zu den paar Auserwählten, die für dieses Jahr zum Rising Stars Festival in der Elbphilharmonie eingeladen wurden, von Streichquartett bis Schlagwerk reicht das Spektrum. Notgedrungen heißt das Festival jetzt „Rising Stars Digital“; die sechs Konzerte sind zu den ursprünglich geplanten Terminen aufgezeichnet worden und werden um ein paar Tage versetzt ab diesem Dienstag gesendet.
Jeder „Rising Star“ hat es bereits recht weit gebracht
Jedes Jahr lädt die Elbphilharmonie zum Rising Stars Festival. Das Haus gehört der European Concert Hall Organisation (ECHO) an, und die schickt die aufstrebenden Sterne alljährlich auf eine Tour quer durch Europa. So kann das interessierte Publikum Künstler erleben, denen zum Weltruhm nichts fehlt als vielleicht ein paar Jahre Leben oder ein paar glückliche Fügungen im Veranstaltungskarussell, aber ganz bestimmt nicht das Können.
Wer zu diesem Kreis gebeten wird, hat es weit gebracht. Von Nachwuchs kann man da nicht mehr reden. Tishchenko, geboren 1990 auf der Krim, hat an so feinen Adressen wieder Berliner Hochschule für Musik Hanns Eisler oder der Kronberg Academy studiert, sie spielt Solokonzerte mit namhaften europäischen Orchestern und gastiert bei bedeutenden Festivals. Ein Profi durch und durch.
Das zeigt sich besonders im Ungeplanten. Dreimal brechen die beiden am Anfang der Debussy-Sonate ab. Dreimal verlassen sie die Bühne und treten wieder auf; Schneiden ist schwierig bei einer Videoaufzeichnung. Und bei jedem Neubeginn entsteht um Tishchenko herum von der ersten Phrase an eine Atmosphäre, die nicht gewollt oder gemacht wirkt. Sie geschieht einfach. Die Wiederholungen machen es erst deutlich, welch hohe Kunst dieses Amalgam von Beherrschung und Durchlässigkeit ist.
Tishchenkos Spiel wirkt unangestrengt
Tishchenkos Spiel wirkt so unangestrengt, dass Virtuosität und technische Perfektion vollkommen in den Hintergrund treten. Was den Hörer ergreift, sind ihre Beredtheit und die Direktheit ihres Ausdrucks. Die Geigerin erzwingt nichts, sondern lässt die Musik förmlich durch sich hindurchfließen. Jedes Atemholen und jede Klangfarbe, die sie ihrer phänomenalen Bergonzi-Geige entlockt, scheint ihr der Moment einzugeben. Bei dem Solostück „A Box of Darkness with a Bird in its Heart“, das der Portugiese Vasco Mendonça 2020 für Tishchenko geschrieben hat, lässt sie den Vogel mal panisch flattern und mal resignieren – ein ferner, aber zutiefst berührender Widerschein dessen, was wir gerade kollektiv erleben.
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Und die Violinsonate von César Franck, die so leicht überzuckert oder auch übersteuert daherkommt, entfaltet unter den Fingern von Tishchenko und Gallardo ungeahnt nachdenkliche, intime Nuancen. Andererseits drehen die beiden auch ein paarmal den Regler ganz nach oben. Das machen sie nur selten, um so stärker wirkt es dann.
Ausgerechnet auf dem abrupten Schlussakkord landen sie nicht zusammen. Den wiederholen sie, und den zweiten Satz der Franck-Sonate nehmen sie noch mal ganz auf. Dann sind die Fotografen dran, die bekommen zwei exquisite Tangos von Ástor Piazzolla. Die Tontechniker räumen derweil auf, die Kameras schlafen längst in ihren Etuis. Tishchenko und Gallardo sind konzentriert dabei, von unbeirrbarer Freundlichkeit.
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Hinterher im Foyer, in Wollpullover und flachen Schuhen, ist die zarte blonde Frau hinter ihrer Maske kaum wiederzuerkennen. Ein wenig müde wirkt sie schon. „Wir sind eigentlich daran gewöhnt, uns über einen langen Zeitraum zu konzentrieren“, sagt Tishchenko. „Aber das ist Trainingssache. Mein letztes Konzert war am 10. November.“ Dass der Saal leer war, habe sie nicht gestört: „Es waren doch Menschen da! Selbst wenn man nur für einen Menschen spielt, ist es eine Aufführung.“ Und den Applaus vermisse sie nicht. „Applaus kommt sowieso, egal ob man gut oder schlecht gespielt hat. Er ändert nichts am inneren Ergebnis.“
Was Diana Tishchenko alles aus ihrem Inneren schöpft, das ist am kommenden Freitag in der Mediathek der Elbphilharmonie erleben.
Rising Stars Digital 26. bis 31.1., jeweils 20.30 auf www.elbphilharmonie.de/de/mediathek