Hamburg. Ungeschriebene Regeln werden außer Kraft gesetzt. Das neue Publikum klatscht, wann es ihm gefällt – auch zwischen den Sätzen.

Neulich im Großen Saal der Elbphilharmonie: Auf der Bühne die Pianistin Alice Sara Ott und das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Leitung von Chefdirigent Thomas Hengelbrock. Um sie herum rund 2000 Menschen, und da ­geschieht es, ausgerechnet im funkelnagelneuen Konzerthaus: Der erste Satz von Ravels Klavierkonzert geht derartig schmissig-jazzig zu Ende, dass Applaus aufbrandet, als wär’s ein Finalsatz. Ist aber keiner, weshalb der Beifall auf ­Zischen der Umsitzenden stößt und verschämt abebbt.

Was ist da passiert? Käme jemand vom Mond und erlebte diese Szene mit, man müsste weit ausholen, um ihm zu erklären, welche Bräuche und Regeln da unter der Oberfläche am Werk waren und nach wessen Ansicht sie verletzt wurden, was falsch und richtig ist und ob es hier überhaupt falsch und richtig gibt.

Wann man nur am Ende klatscht

Applaus zwischen den Sätzen kann zu Unmut bei den Sitznachbarn führen
Applaus zwischen den Sätzen kann zu Unmut bei den Sitznachbarn führen © iStock by Getty Images | iStock by Getty Images

Wer öfters ins Konzert geht, dem ist bekannt, dass man in einem mehrsätzigen Werk nicht zwischen den Sätzen klatscht, sondern erst am Ende. Das ist so üblich, das bekommt man entweder von den Eltern mitgegeben – oder man lernt es schmerzlich durch eine Situation wie die beschriebene. Vor den ­Ohren eines ganzen Saals in eine solche Falle zu tappen, kann jemanden als Konzerthörer für immer vergrätzen, und sei die gerade erlebte Musik noch so schön und ­ergreifend.

Es gibt eine Reihe ungeschriebener Regeln beim klassischen Konzert. Das beginnt bei der Kleidung und führt über die räumliche Trennung zwischen Ausführenden und Publikum bis hin zum andächtigen Stillsitzen. Essen oder trinken im Konzertsaal, rauchen gar? ­Bewahre.

Regeln gelten seit Mitte des 19. Jahrhunderts

Von außen betrachtet, erinnert die Gesamtheit dieser Usancen geradezu an einen Gottesdienst. Sicherlich, manche sind heute lockerer als vor 30 Jahren, Jeans sind im Konzertsaal schon mal anzutreffen, aber im Wesentlichen liegen die gesellschaft­lichen Spielregeln seit Mitte des 19. Jahrhunderts fest. Bis dahin hatte sich nämlich die Form des Konzerts, wie wir sie heute kennen, ausgeprägt.

Musik hat zum Leben schon immer dazugehört. Den Alltag des Adels flankierte sie ohnehin, von den Bläserfanfaren beim Jagdausflug bis zur Serenade als Bankett-Hintergrundmusik. Für die Bürger spielten Stadtpfeifer zu öffentlichen Anlässen, Türmer bliesen die Uhrzeit, und in der Kirche gab es Orgelspiel und Gesang. Die Musik war zweckgebunden und vor dem Aufkommen von Radio und Tonträgern bei Weitem nicht so verfügbar wie heute.

Der Gründer der Konzertreihen

Im 16. Jahrhundert begannen Interessierte, sich zum Musizieren zu treffen. In der Hauptsache aß man, und trank und redete „zu gebildeten, nütz­lichen und ehrbaren Dingen“. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts luden „Collegia musica“ zu musikalischen Darbietungen ein, aber die Musiker wurden nicht ­bezahlt und nahmen auch keinen Eintritt. Erst Georg Philipp Telemann, seines Zeichens Musikdirektor in Hamburg, gründete regelrechte Konzertreihen und verkaufte dafür Eintrittskarten, ­sogar Abonnements konnte das Publikum erwerben.

Andersherum ausgedrückt: Wer das Geld ausgeben wollte und konnte, durfte hinein. Die Geschichte des Konzerts ist auch eine der Emanzipation des Bürgertums vom Adel. Und so selbst­bewusst, wie sich der noch junge Stand seinen Platz im gesellschaftlichen ­Leben eroberte, so entschieden prägten seine Werte das Phänomen Konzert. In nichts sollte es an das plebejische Treiben erinnern, wie es in öffentlichen Theatern herrschte. Im Theater waren Gespräche, Glücksspiel, Alkoholkonsum und Rauchen während der Vorstellungen vollkommen normal; die Leute brachten Kinder und Hunde mit und ­reagierten auf das Bühnengeschehen ungebremst mit Pfeifen, Zischen, Klatschen oder Bravorufen. Kurz, das Theater war eine dubiose Institution (wie übrigens auch die Gänsemarktoper in den Augen so mancher Hamburger Kirchenoberen).

Bürgerliche Konzerthäuser wurden zu Tempeln

Die bürgerlichen Konzerthäuser ­dagegen entwickelten sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts zusehends zu Tempeln. Die Bühnen rückten Altären gleich aus dem Zentrum des Geschehens nach vorne. Man huldigte der Kunst und einer neu entdeckten Innerlichkeit: hier die gottgegebene Musik und ihre fast ebenso göttlichen Interpreten, die ihre Virtuosität vorführten, dort der von diesem Können zu beeindruckende Hörer, reduziert auf die stumme Rolle des Nehmenden, der sich allenfalls am Schluss artig bedanken durfte. Eine Kommunikation zwischen beiden Sphären stand, milde ausgedrückt, nicht im Zentrum des Geschehens. Contenance ging vor Spontaneität.

So entwickelte sich der ungeschriebene Codex, über den noch heute mancher stolpert. Nur die Sache mit dem Zwischenbeifall, die ist nicht so eindeutig. Im 19. Jahrhundert war er nicht durchgängig verpönt. Bei der Uraufführung von Beethovens Neunter, dem Heiligtum schlechthin der westlich-klassischen Musik, soll das Publikum nach jedem Satz getobt haben. Noch 1910 sahen sich die Veranstalter von Streichquartettkonzerten in Berlin veranlasst, eine „Beifallsenthaltung zwischen den einzelnen Sätzen“ anzumahnen, der Geiger Karl Klingler widmete dem Thema 1924 einen mehrseitigen Aufsatz.

Applaus kann Zusammenhang der Sätze stören

Was aber ist es, das die Gemüter seit mehr als 100 Jahren erregt? ­Zunächst einmal kann Zwischenapplaus den strukturellen Verlauf der Musik stören. Sinfonien oder Sonaten haben oft einen inneren Sinn­zusammenhang über mehrere Sätze hinweg – wird er zerklatscht, leiden alle, die sich mit Herz, Geist und Seele auf ihn eingelassen haben.

Soll ein Hörer seinem begeisterten Herzen Luft machen dürfen, wenn 1999 sich davon gestört fühlen? Andererseits teilt es sich einem fühlenden Herzen – und Ohr – doch mit, dass introvertierte, zarte Satzschlüsse keinen frenetischen Jubel vertragen. Auch Ergriffenheit ist eine Art der kollektiven Erwiderung. Es gibt unendlich viele Arten von Stille.

Sofern die Mithörer sich allerdings am Regelverstoß als solchem stören, dann ist es möglicherweise an der Zeit, die Regel zu überdenken. Stichwort „Haus für alle“ und so. Ungeschriebene Regeln sind nämlich auch ein Mittel der Abgrenzung zwischen denen, die sie ­beherrschen, und den anderen.

Es ist kein Zufall, dass sich die ­Erbauer der Elbphilharmonie für den Großen Saal gegen das überbrachte frontale Schuhkarton-Modell entschieden und stattdessen die Sitze in aufsteigenden Reihen und so angeordnet haben, dass das Publikum um die Künstler herumsitzt. Die Hörer sind den Musikern ­näher als in der Laeiszhalle, und: Sie sind einander näher. Darin liegt auch eine gesellschaftspolitische Aussage: Erst durch gemeinsames Erleben wird eine Aufführung zum Konzert.

Niemand hat gesagt, dass dieses Miteinander auf alle Zeiten den Sitten des gestrengen 19. Jahrhunderts folgen müsse. Spontaneität statt Contenance, warum eigentlich nicht? Wer sich wirklich auf den musikalischen Moment einlässt, der wird spüren, was dieser ­Moment verlangt. Klingt utopisch, so etwas auf 2000 Menschen hochzurechnen. Aber wenn es das Hamburger Konzertleben je nach Utopien verlangt hat, dann doch wohl jetzt.