Hamburg. Zuletzt fiel der Künstler mit seltsamen Theorien aus der Rolle, jetzt spielte er in der ausverkauften Barclaycard Arena groß auf.
Bei seiner großen Verirrung zu den „Reichsbürgern“ mag Xavier Naidoo sich kolossal im dunklen Wald der Verschwörungstheorien verlaufen haben. Im Dickicht hat derweil kein Bösewicht – Naidoo würde ihn vielleicht „Besatzer“ nennen – gelauert und das Talent des Soulsängers einkassiert.
Auch seinen Glauben hat Naidoo, der 45 Jahre alte Popstar aus Mannheim, nicht verloren, natürlich nicht. Was gut ist, denn sein Herr wird ihm wohl das Licht gebracht haben, dessen Naidoo wie kein anderer bedurft hat nach seinem irritierenden Ausflug in Rechtsaußen-Gefilde samt nachfolgender ESC-Be-und-wieder-Abberufung im vergangenen Jahr.
Intim-Konzert in Dreierbesetzung
Am Sonnabend legte Naidoo, ohne Frage einer der begnadetsten Musiker in diesem Land, in der ausverkauften Barclaycard Arena vor 12.000 Besuchern einen beeindruckenden Auftritt hin. Es war eine Art Intimkonzert in Dreierbesetzung, neben dem Stimmmonster Naidoo brillierten seine exzellenten Begleiter Neil Palmer am Flügel und Alex Auer an der Gitarre. Irgendwann sagte Naidoo, wie unglaublich es sei, hier vor ausverkauftem Haus zu spielen. Alle Konzerte sind übrigens ausverkauft; hätte er wohl nicht ganz geglaubt, als die Tour geplant wurde.
Das Publikum nimmt den Dumpfrhetorikern ihre Worte nicht wirklich krumm, es sind nicht die Zeiten dafür. Nach dem ESC-Shitstorm distanzierte sich Naidoo zwar halbwegs von den „Reichsbürgern“, mit dem Spott muss der Ex-Reichsbarde, dem vorübergehend das Urteilsvermögen abhandengekommen war, aber fortan leben müssen.
Einmarsch in die Arena mit „Amazing Grace“
In die Barclaycard Arena marschierte der aufgeräumt und gut gelaunt wirkende Sänger mit dem Singen von „Amazing Grace“ ein. Erstaunlich ist die Gnade, in der Tat, und es ist ein Statement, was sonst, dass der tiefgläubige Naidoo sein mehr als zweistündiges Konzert (inklusive Pause) mit einem Kirchenklassiker eröffnete.
Seine Songtexte handeln seit jeher von spirituellen Erweckungen und Lobpreisungen des Herrn. Wer will, kann das lyrische Du („Ich bau auf dich/Ich glaub an dich/Ich brauche dich“) aber immer auch mit einem geliebten Menschen assoziieren – das Wunder der semantischen Mehrdeutigkeit.
Das ist wichtig im Falle einer sehr irdischen Veranstaltung wie einem Popkonzert, das schließlich nicht mit einem Kirchentag zu verwechseln ist.
Tiertranporte und häusliche Gewalt sind doof
Und so musste man Naidoo auch nicht zwangsweise als Prediger sehen, wenn er dort inmitten der vielen Sitzreihen auf einer sich samt drehenden Rundbühne meistens saß und einen fulminanten Ritt durch sein bisheriges Œuvre hinlegte. Im April erschien Naidoos neues Album „Nicht von dieser Welt 2“, sein mittlerweile siebtes. Da sind ein paar Hits zusammengekommen: „Nicht von dieser Welt“, „Sie sieht mich nicht“, „20.000 Meilen“, „Und wenn ein Lied“ – Melodien für Millionen, die in Hamburg andächtig mitgesungen wurden.
Naidoo ist ein Mann mit unbedingtem Sendungsbewusstsein, weshalb er seine Lieder nicht für sich selbst stehen lässt. Tiertransporte und häusliche Gewalt sind doof, also hat er Stücke darüber geschrieben („Das lasse ich nicht zu“, „Ich will leben“), die schon eindeutig in ihrer Aussage sind, trotzdem sagte der durchaus redselige Künstler auch noch ein paar einleitende Worte, etwa diese, übrigens sehr konziliant: „Ich mein’, Fleisch kann man ja essen, aber die eingepferchten Tiere ...“ Da stöhnte der Nebenmann in der Zuschauerreihe leise auf. Wir haben es kapiert.
Naidoos Appell: Mitsingen, nicht mitfilmen
Naidoos Vortrag war, wie immer, perfekt. Kein stimmlicher Wackler, dazu Freude am Zusammenspiel mit den beiden anderen Musikern. Manchmal schnippte Naidoo mit den Fingern, manchmal machte er die Beatbox, manchmal schlenderte er auch im Wiegeschritt einmal um das relativ übersichtliche Bühnenrund. Tolerant, wie er ist, wollte er seinen Fans zwar die Dokumentationswut nicht verbieten, appellierte aber doch recht klar an ihre Beteiligungsbereitschaft: mitsingen, nicht mitfilmen! Man denkt bei sich, dass er damit doch einen Punkt anspricht, für den sich mehr zu agitieren lohnt als für trübe Nazi-Tassen. Da weiterdenken, Xavier! Warum nicht mal alle Klugtelefone aussperren?
Vier Zugaben spielte das von Naidoo angeführte Trio an diesem schönen Konzertabend. Als erste schmetterte er „Hallelujah“ in die Arena und widmete dieses wunderbare Lied Leonard Cohen, dem gerade gestorbenen Musikgenie. Eigentlich komisch, dass dieser dauerbeseelte Mannheimer erst jetzt die spirituelle Kraft des Klassikers entdeckt.
Manchmal wird man schlauer.