Hamburg. Wo ist es in der Stadt am schönsten? Teil 17: Das kleine Viertel, das zwischen Kommerz und Konsumverweigerung vor Energie birst.

Die Schanze lässt dich nicht in Ruhe. Die Schanze stinkt, sie schreit, sie feiert, grölt und widersetzt sich. Sie schillert und glänzt, birst vor Energie, Kreativität und Geilheit. Die Schanze ist die Bühne für deine Neurosen, für die beste oder schlechteste Version deiner selbst. Die Schanze gibt dir Freiheit, oder die Illusion davon. Sie ist gnadenloser Kommerz und kategorische Konsumverweigerung, schön und hässlich, jung und alt, reich und arm, grün und grau, exzessiv und depressiv, niemals angepasst und doch lächerlicher Mainstream. Die Schanze ist Widerspruch und Zustimmung. Und in so vielen Momenten der wirklich beste Stadtteil dieser Hansestadt.

1995, gerade eingezogen in die Susannenstraße, stehe ich morgens mit zwei gesichtstätowierten Herren im Aufzug. Sie sind schwer beladen mit Schallplatten, Studioscheinwerfer und Tapedeck. „Moin“, sag ich. „Moinsen“, sagen sie und reden weiter über irgendwas, während ich merke, das sind meine Platten, mein Scheinwerfer, mein Tapedeck, alles vom Boden. Ich werde gerade bestohlen, halte aber meine Schnauze und den Jungs unten die Tür auf. „Danke! Schönen Tag noch“, sagen die. „Gleich so“, antworte ich und gehe Brötchen holen, froh eine morgendliche Eskalation wegen alten Gerümpels vermieden zu haben.

Tage später entdecke ich in einem Trödelladen ein paar Häuser weiter den Wandspiegel, den ich suchte und daneben – meine Platten, meinen Scheinwerfer, mein Tapedeck. „Ich weiß, von wem du die Sachen gekauft hast!“, sage ich zum Ladenbesitzer. „Ok. Der Spiegel kostet 200. Sagen wir 100?“, sagt er.

In der Schanze springt einen das Leben an

Die Schanze ist ein Geben und Nehmen, lernte ich. Gegeben hat sie mir in den letzten 25 Jahren, die ich in ihr lebe, mehr als nur einen Wandspiegel, auch wenn der noch immer in meiner Wohnung in der Schanzenstraße hängt. Zunächst gab mir die Schanze das Gefühl, eingelöst zu haben, was ich mir als Junge aus der süddeutschen Provinz vom Leben versprochen hatte, nämlich dort zu sein, wo das Leben dich anspringt, und nicht da, wo es sich hinter gepflegten Vorgärten versteckt.

Gegeben hat mir die Schanze das Bewusstsein, wie wichtig Toleranz ist, Respekt und Zusammenhalt im Miteinander und klare Kante im Gegeneinander. So war es immer in dem kleinen Viertel mit der großen Hamburger Geschichte.

Sternschanze: Das sind die Fakten

  • Einwohner: 8095
  • Davon unter 18: 1175
  • Über 65: 844
  • Durchschnittseinkommen: 31.125 € (2013)
  • Fläche: 0,5 km²
  • Anzahl Kitas: 4
  • Anzahl Schulen: Eine Grundschule
  • Wohngebäude: 499
  • Wohnungen: 4309
  • Niedergelassene Ärzte: 37
  • Straftaten im Jahr 2018: 3248 erfasst, 1642 aufgeklärt

Kaum 180 Jahre ist es her, dass auf den Ländereien des Rosenhofs der Gutsherrenfamilie Hülsenbeck die Schanze zu wachsen begann und sich dicht an dicht über die Jahrzehnte die Mietskasernen für die Hafenarbeiter über dem durchs Viertel fließenden Pepermölenbek erhoben, ehe er schließlich, zuvor noch als Kloake missbraucht, versiegte.

Montblanc und Hagenbeck haben in der Schanze ihren Ursprung

Hanseatische DNA fließt in den Hauptschlagadern des Viertels. An der Schanzenstraße, in der heutigen Volkshochschule, erlangte der Füller-Hersteller Montblanc zwischen 1912 und 1989 Weltruf. Im heutigen Schulhof der Ganztagsgrundschule Sternschanze an der Ludwigstraße eröffnete Carl Hagenbeck 1874 seinen „Thierpark“, in dem er bis 1904 auch exotische Völkerschauen mit Nubiern, Lappländern, und Eskimos veranstaltet haben soll.

Ehe das Schulterblatt 1943 im Bombenhagel unterging, war es eine der exklusivsten Flaniermeilen der Stadt, der Uhrmacher Gerhard Diedrich Wempe eröffnete hier sein erstes Geschäft, es gab das Kaufhaus Carl Bucky („Selbst die Tante aus Kentucky, kommt zum Ausverkauf nach Bucky“) und jede Menge Kneipen und Kinos. Im Konzerthaus Flora vergnügte sich das Bürgertum bei Fassbrause, schaute Ringkämpfe und Varieté. Geprägt wurde das Viertel aber zu allen Zeiten von den Arbeitern, die hier in den Wohnungen mit Kohleheizung und Klo auf dem Gang lebten. Menschen, auf die man in den Etepetete-Stadtteilen Hamburgs gerne herabblickte.

Anwohnerin: "Ich lebe in der Wohnung, in der ich geboren wurde"

„Nachtjackenviertel hieß das über die Schanze in meiner Kindheit“, sagt Renate Herrador, die 65 Jahre alt ist und 63 Jahre davon zwischen Stern-, Bartels- und Schanzenstraße lebt. Immer in der Nähe Schwester Dorithe „Dorle“ Schultz (59): „Ich lebe in der Wohnung in der Sternstraße, in der ich geboren wurde.“

Der Papa der Schwestern war Automechaniker. „Er reparierte allen Arbeitern im Schlachthof die Autos. Ich sach’ mal – Fleisch hatten wir immer genug“, sagt Renate Herrador. Na klar, das Geben und Nehmen. „Wir hatten alle nicht viel Geld und mussten zusammenhalten.“ Als Renate heiratete, feierte das halbe Viertel mit. „Dann kamen alle Nachbarn auf dem Hof zusammen, jeder hatte gekocht und brachte was mit und es wurde gefeiert!“

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© Andreas Burgmayer

Niemand schaute weg, wenn auf der Straße jemand Hilfe schrie. „Da gingen alle Fenster auf!“ Und der Kampf der Kulturen wurde Auge in Auge ausgetragen. „Unter uns zog ein türkischer Gastarbeiter ein. Mein Papa bekam mit, dass der seine Frau schlug. Da ist er hin und hat gesagt, dass er das hier nicht tun kann. Danach kamen wir gut miteinander aus“, sagt Dorle Schultz.

Jede Generation hat die Schanze, die sie verdient

Stundenlang könnte man den Geschichten der Schwestern aus dem Viertel lauschen. Mir fällt dabei unwillkürlich der geschätzte Autor und Schanzenbewohner Heinz Strunk ein, der mal in einem Interview sagte, die Schanze bestehe quasi nur aus jungen Leuten. Was man natürlich nur meinen kann, wenn man nicht so genau hinschaut. Oder nur zu den falschen Tageszeiten. Renate und Dorle sind längst nicht allein. Aber sie drohen, es zu werden. „Die Alten werden im Viertel an die Wand gedrückt“, sagt Dorle. „Die können sich die Mieten nicht leisten.“ Früher gab es unzählige Kneipen. Treffpunkte zum Trinken, Klönen, Karten kloppen und Würfeln. Da traf man die Alten. „Aber heute ist alles nur für die jungen Leute.“

Was so ist, wie es eben ist, denn jede Generation hat die Schanze, die sie verdient. Deswegen gibt es derzeit wohl keinen besseren Kiez für den „sanften Rausch“ (Copyright Saal II) und das gepflegte Abhängen in Hamburg. Für die liebenswerte Ambivalenz der Viertelkultur mit all ihrem Fluch und Segen war die Besetzung der Roten Flora 1989 so etwas wie der Nukleus. Kaum auszudenken, würden heute täglich Busse mit Musical-Touristen aus Wanne-Eickel auf dem Schulterblatt halten. Was nicht bedeutet, dass die Touristen aus Wanne-Eickel wegbleiben. Die kommen heute gerade wegen der Roten Flora, dem portugiesischen Galão im Transmontana oder einem Drink im Chambre Basse unterm ehemaligen Teppichhaus Kummer (Haus 73). Ist die Ballermannisierung der Schanze aufzuhalten? Momentan regelt nur die Nachfrage den Markt.

Schanzenviertel Galao und Nata beim Portugiesen Transmontana vor der Roten Flora - Stadtteilserie; lok, Foto: Andreas Laible / Funke Foto Services
Schanzenviertel Galao und Nata beim Portugiesen Transmontana vor der Roten Flora - Stadtteilserie; lok, Foto: Andreas Laible / Funke Foto Services © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Vor 25 Jahren musstest du das Dörfchen Schanze für nichts verlassen. Elek­tro Kölsch hatte ALLES, die Drogerie Schlenstedt den Rest, es gab Schlachter, Feinkost Fritz und für alles Frische die türkischen Händler. Nun zahlst du auf dem Schulterblatt locker 10.000 Euro Miete pro Monat für einen Laden. Jetzt sind da Flagship-Stores und internationale Ketten. Unsere Tochter, die meine Frau und ich hier großziehen, liebt das. Wenn wir Eltern in schwachen Momenten Altbauwohnungen in Eimsbüttel bewundern, ernten wir Protest. „Kommt nicht auf die Idee, hier wegzuziehen“, sagt die 15-Jährige. Machen wir nicht. Da wären wir wir ja auch schön blöd.

Sternschanze: Das sind die Highlights

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Rote Flora/Schulterblatt

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