Neuengamme. Auf der Videoplattform gibt es nicht nur Spaßfilmchen. Die Beiträge aus Neuengamme werden hunderttausendfach geklickt.

Junge Menschen unter und um die 20 haben andere Sehgewohnheiten, informieren sich anders als die älteren. Gegenüber gedruckten Texten bevorzugen sie bewegte Bilder. Die bekommen sie auf der Internetplattform TikTok massenhaft geliefert, meist zu Spaß-Themen, denen sich jedermann dort widmen kann.

Doch dass mithilfe kurzer Filme, in die Musik, kurze Schriftzüge oder auch comicartige Sprechblasen (Sticker) eingeblendet werden, auch seriöse Themen ein großes Publikum erreichen können, erfährt nun die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Sie hat als erste KZ-Gedenkstätte überhaupt Videos gepostet – und ein enormes Feedback erfahren.

TikTok-Videos aus der KZ-Gedenkstätte erreichen Hunderttausende

Ein Kurzfilm, in dem es um die Häftlings-Winkel, also die Markierungen der Uniformen der Inhaftierten, in Neuengamme geht, wurde mehr als 400.000-mal angeklickt. Hunderte junger Menschen diskutieren unter den Filmbeiträgen miteinander, tauschen sich über die dargestellten Themen aus und stellen Fragen an das TikTok-Team aus Neuengamme, die nicht selten mit neuen Filmen beantwortet werden.

Screenshot: Justin Warland (20)  spricht zur TikTok-Gemeinde.
Screenshot: Justin Warland (20) spricht zur TikTok-Gemeinde. © Thomas Heyen | Thomas Heyen

Das TikTok-Team besteht aus Iris Groschek, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, und drei Freiwilligen (Volunteers): Daniel Cartwright (22) aus England, Solomia Romanenko (23) aus der Ukraine und Justin Warland (20) aus Australien. Ihre ehrenamtliche Arbeit endet nach ein bis zwei Jahren im August.

Sie haben an einem mehrteiligen Seminar teilgenommen, das über mehrere Wochen online angeboten wurde: Die Hebrew University of Jerusalem verfolgt mit der „TikTok – Shoah Education and Commemoration Initiative” das Ziel, deutsche Gedenkstätten und Museen zur Einbindung von TikTok in die eigene Gedenk- und Bildungsarbeit zu ermutigen und ihnen Wissen zu vermitteln, um neue Zielgruppen zu erreichen. Vor dem Hintergrund der Relativierung und Leugnung des Holocaust, dem Völkermord an rund sechs Millionen europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs, richtet sich die Initiative gleichzeitig gegen die Verbreitung solcher Inhalte auf TikTok.

Lob auch vom Zentralrat der Juden in Deutschland

„Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme ist schon seit vielen Jahren aktiv in der Online-Kommunikation. Unser Ziel mit dem neuen TikTok-Projekt ist es, in einem Medium, das junge Menschen regelmäßig nutzen, über die nationalsozialistischen Verbrechen aufzuklären, das Bewusstsein für vergangenes und aktuelles Unrechtshandeln zu schärfen und die Sichtbarkeit unserer Themen zu erhöhen, indem wir Informationen auf eine moderne Weise weitergeben“, sagt Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. „Wir bieten damit einen Rahmen zum Nachdenken und öffnen uns für eine neue Plattform von miteinander verbundenen, aktiven Lernenden.“

Der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann, begrüßt die Initiative: „Wir sehen jeden Tag, wie Menschen bei Sozialen Medien die Shoah verharmlosen oder gar leugnen. Es kann nicht sein, dass solche Inhalte nach wie vor scheinbar ohne Konsequenzen verbreitet werden können. Die Plattformbetreiber werden leider oftmals ihrer Verantwortung nicht gerecht. TikTok geht mit der Kampagne ,TikTok – Shoah Education and Commemoration Initiative’ in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass dieser Schritt ein Vorbild auch für andere Unternehmen sein wird.“

Bereits mehr als 40 Videoclips ins Netz gestellt

Für Iris Groschek (52) böten die TikTok-Clips die Möglichkeit zu einer ungewohnten Form des Geschichtenerzählens. „Das ist Kommunikation junger Menschen auf Augenhöhe.“ Sie hebt die Außendarstellung der Gedenkstätte in eine neue Dimension. Denn von 400.000 Klicks, Hunderten Usern in Internet-Diskussionen und knapp 11.000 Followern konnten die Profis für Öffentlichkeitsarbeit am Jean-Dolidier-Weg bisher nur träumen. Es sei wichtig, überhaupt junge Menschen zu erreichen, betont Groschek. Die drei Volunteers haben ein Büro in den Räumen der Gedenkstätte, wohnen zu dritt in einem Appartement in Bergedorf.

Mehr als 40 Videoclips hat das Tiktok-Team bereits ins Netz gestellt, weitere sind in Arbeit. „Wir filmen nicht nur mit unseren Handys, sondern bearbeiten die Videofilme auch auf dem Mobiltelefon“, sagt Solomia Romanenko. In englischer Sprache richten sich die Freiwilligen an die weltweite TikTok-Gemeinde. Die Zuschauer kommen aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und vielen weiteren Ländern. Anschauen kann sich die Filme jeder, mitdiskutieren darf nur, wer sich bei TikTok angemeldet hat. Der Link zu den Clips aus Neuengamme: tiktok.com/@neuengamme.memorial.

Für jedes Video wird zunächst ein Script geschrieben

Regelmäßig tauscht sich das TikTok-Team darüber aus, welche Themen aus der Gedenkstätte für junge Menschen interessant sein könnten. Natürlich werde auch auf Anfragen von Usern reagiert. „Bevor wir einen neuen Videofilm drehen, schreiben wir immer erst einmal ein Script“, sagt Solomia Romanenko. Die jungen Freiwilligen widmen sich in den Kurzfilmen etwa den Außenlagern von Neuengamme oder einer Rettungsaktion des Roten Kreuzes in den letzten Tagen des Kriegs im April 1945.

„Der Zuspruch ist auf jeden Fall größer als wir erwartet haben“, sagt Daniel Cartwright. „Wir waren sehr überrascht, dass unsere seriösen Inhalte neben den ganzen lustigen Filmchen auf TikTok auf so großes Interesse stießen.“

Vor Beginn ihres Projekts hätten sie keine Filme auf TikTok eingestellt, berichten die beiden Volunteers. Solomia Romanenko geht davon aus, dass es Clips aus Neuengamme auch noch geben wird nachdem sie und ihre Mitstreiter ihre Freiwilligen-Dienste beendet haben: „Das werden andere Volunteers weiterführen.“