Billwerder. Der Leiter der JVA Billwerder geht nach fast vier Jahrzehnten in Pension. In Altengamme arbeitete er mit vielen Gewalttätern.

Ullrich Quietzsch steht an der Spitze der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder (heute: fast 700 Insassen und rund 400 Mitarbeiter) – und das seit 2004, ein Jahr nach deren Eröffnung vor knapp 17 Jahren. Zählt man weitere Anstalten hinzu, war er fast 38 Jahre im Gefängnis. Am 1. März wird Quietzsch "aus der Haft entlassen", wie er es humorvoll formuliert. Der 65-Jährige verabschiedet sich in den Ruhestand.

Der Diplom-Psychologe schulte in Hamburg und Niedersachsen lange JVA-Mitarbeiter, angefangen 1983 als Anstaltspsychologe in der JVA Hannover. Dort sei damals alles sehr hierarchisch organisiert gewesen. "Das war nicht meine Welt. Ich merkte aber schnell, dass ich meine eigenen Schwerpunkte setzen konnte – und blieb."

Quietzsch: "Wollte die Dinge selbst in die Hand nehmen"

"Irgendwann reichte mir das Zurufen vom Spielfeldrand nicht mehr. Da wollte ich die Dinge selbst in die Hand nehmen, um organisatorische Einheiten steuern und führen zu können." Deshalb habe er sich in den 90er-Jahren um die Stelle des stellvertretenden Anstaltsleiters in der damaligen JVA Fuhlsbüttel beworben – und auch bekommen. "Dort habe ich eine gute Schule durchlaufen." 2001 wurde Quietzsch Leiter der JVA Vierlande, die bis 2006 existierte. 2004 übernahm er die Leitung in Billwerder.

Als Kind habe er Architekt werden wollen, später gab es den Plan Germanistik zu studieren und als Journalist zu arbeiten. "Doch dann kam eine Phase, in der ich die Welt verbessern wollte. Deshalb studierte ich Psychologie." An der Uni Braunschweig hatte er Zugang zu Forensischer Psychologie. Dort ging es um Fragen wie "Was spielt sich im Kopf eines Kriminellen ab? Wieso wird der eine immer wieder rückfällig, während der andere in die Spur zurück findet?" Einzelfälle wurden nachgezeichnet und -vollzogen.

Arbeit als Psychologe in der Sozialtherapeutischen Anstalt Altengamme

Quietzsch, geboren in Leipzig, verbrachte Kindheit und Jugend in Wolfsburg. "Meine Eltern sind 1960, ein Jahr vor dem Mauerbau, in den Westen übergesiedelt." Seit 1991, als er mit der Arbeit als Psychologe in der Sozialtherapeutischen Anstalt Altengamme begann, lebt er in Hamburg. In Altengamme arbeitete Quietzsch mit vielen Gewalttätern.

In Hamburgs Gefängnissen würden fast 2000 Straftäter einsitzen. "Von ihnen wurden aber nur gut 30 zu Lebenslänglich verurteilt." Die meisten Häftlinge hätten verstanden, dass sie etwas beisteuern müssen, damit es voran geht auf ihrem Weg nach draußen, betont Quietzsch.

Mitarbeiter waren Zielscheibe von Übergriffen

Trotzdem gibt und gab es häufiger Ärger. "Zum Teil musste ich sehr genau aufpassen, was ich zu den Gefangenen sage." Als Leiter habe er sich dann aber mehr um seine Mitarbeiter gesorgt. "Sie waren Zielscheibe von Übergriffen." Es habe mehrfach Geiselnahmen gegeben, bei denen Beamte plötzlich ein Messer am Hals hatten.

Auch tätliche Angriffe (Schläge) seien vorgekommen. In Fuhlsbüttel sei ein Mitarbeiter lebensgefährlich verletzt worden, als ein Gefangener ihn mit bloßen Händen angegriffen hatte. "Der Kollege war bald darauf wieder im Dienst. Doch nicht jeder kann das, gleich wieder in die Situation reingehen. Mit längerem zeitlichem Abstand wird das allerdings immer schwieriger."

"Diese Belastungen haben sich bei den betroffenen Kollegen tief eingraviert. So viel Geld verdient keiner von ihnen, dass er so etwas aushalten muss." Auch zu Suiziden von Gefangenen sei es mehrfach gekommen. In Hamburg würden solche Vorfälle durch ein Krisenhilfe-Team aufgearbeitet. Quietzsch selbst habe in diesem "gefahrgeneigten Beruf" Glück gehabt: "Ich bin höchstens bepöbelt worden."

Gefangene stets "aufrecht und respektvoll" behandeln

Er habe sich stets bemüht, die Gefangenen "aufrecht und respektvoll" zu behandeln: "Ich habe ihnen immer gesagt, was Sache ist. Aber sie sollten sich nicht disqualifiziert fühlen, sondern annehmen können, was man ihnen sagt." Der JVA-Leiter habe es als unaufrichtig empfunden, hinter dem Rücken der Insassen etwas zu notieren, "was man sich ihnen nicht zu sagen traut".

Eigene Akzente habe der Gefängnisdirektor nur begrenzt setzen können: "Natürlich muss man sich auch in einem Gefängnis an die gesetzlichen Vorschriften und bürokratischen Strukturen halten. Alle Entscheidungen der Anstaltsleitungen können vom Hamburger Landgericht überprüft werden." Dies werde gelegentlich von Gefangenen moniert, "doch es schützt sie vor Willkür."

Die "andere Leitplanke" sei die Justizbehörde, die aktuell von Senatorin Anna Gallina (Grüne) geleitet wird. Quietzsch: "Als JVA-Leiter bewegt man sich in einem Korridor, der mal schmaler und mal breiter ist. Darin muss man seine Möglichkeiten kreativ nutzen." So habe er im Laufe der Jahre, "der Behörde Dinge vorgeschlagen, die es gestern noch nicht gab". Sein Credo: "Justizvollzug ist ein Mannschaftssport."

Video-Dolmetscher hamburgweit erstmals in Billwerder im Einsatz

In der JVA Vierlande habe es 2001, nach einer Geiselnahme, zum ersten Mal waffenlose Selbstverteidigung während der Dienstzeit für das Personal gegeben. Damals ein Unikum. "Heute ist das Standard in allem Hamburger Anstalten." Das subjektive Sicherheitsgefühl werde geschult, die Mitarbeiter würden selbstbewusster auftreten. 2017 waren hamburgweit erstmals Video-Dolmetscher in Billwerder im Einsatz, zugeschaltet über das Internet, um bei der Kommunikation zwischen Mitarbeitern und Häftlingen zu helfen.

Ullrich Quietzsch ist Vater zweier erwachsener Kinder, lebt in Winterhude. In seiner neu gewonnenen Freizeit will der Pensionär seine Schwedisch-Kenntnisse auffrischen, russische Klassiker lesen und – nach seiner Corona-Impfung – verstärkt mehrwöchige Fernwanderungen unternehmen. "Das war mit angezählten Urlaubstagen bisher nicht so einfach. Künftig kann ich dann häufiger die Füße hochlegen, weil ich keine Uhr mehr im Nacken habe." Quietzsch wanderte vor Jahren zweimal über die Alpen und zuletzt 500 Kilometer auf dem Jakobsweg durch Nordspanien.

Ute Smentek übernimmt die Leitung der JVA

Quietzsch' Nachfolgerin wird Ute Smentek, seine bisherige Stellvertreterin. Er selbst hat derzeit Urlaub, will sich Ende Februar in Billwerder von den engsten Mitarbeitern persönlich verabschieden. "Leider verhindert Corona ja eine ordentliche Verabschiedung in größerem Rahmen." Vielen Mitarbeitern und Kooperationspartnern wolle der 65-Jährige deshalb "eine freundliche E-Mail senden". Ob er heute noch einmal Gefängnisdirektor werden würde? "Ja, aber einen anderen Verwaltungsjob hätte ich nicht machen mögen."