Bergedorf. Heimatforscher Helmuth Schlingemann beschäftigt sich intensiv mit der Historie des Nebenflusses.
Die Überlegungen, die Dove-Elbe wieder an die Tide anzuschließen, bewegen die Gemüter. Wassersportler, Werft- und Jachthafenbetreiber, Anwohner, Angler, Gärtner, Landwirte und Berufsschiffer fürchten die Konsequenzen, sollten in dem Fluss künftig wieder Ebbe und Flut herrschen. Unter anderem kritisieren sie, dass die Fahrrinne versanden würde und nur noch bei Hochwasser befahrbar wäre. Wirtschaftliche Existenzen wären bedroht, ein wertvolles Ökosystem würde zerstört, meinen die Kritiker. Sie fordern den sofortigen Stopp der Machbarkeitsstudie, die das Forum Tideelbe derzeit erstellen lässt.
Die Öffnung der Dove-Elbe ist nur eine von mehreren möglichen Maßnahmen in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg, die das Forum in Erwägung zieht. Ziel ist, das Tidevolumen der Stromelbe zu erhöhen und damit der Erosion am Hauptstrom und der Verlandung entgegenzuwirken. Sollte die Dove-Elbe wieder Ebbe und Flut ausgesetzt werden, könne die Sedimentfracht in der Stromelbe dadurch um ein bis zwei Prozent reduziert werden. Die Kosten der notwendigen Bauvorhaben zur Umsetzung des Vorhabens – unter anderem müssten eine Schleuse gebaut und 650.000 Kubikmeter Sedimente aus dem Seitenarm der Elbe gehoben werden – grob auf 200 bis 250 Millionen Euro geschätzt. Einen Ergebnisbericht mit den zugehörigen Studien will das Forum Tideelbe Ende September vorstellen. Schon 1850 gab es Überlegungen, einen Staudamm mit Schleusen beim Eichbaumsee zu bauen – zur Abtrennung von Dove- und Gose-Elbe, berichtet Heimatforscher Gerd Hoffmann aus Bergedorf.
Im 20. Jahrhundert wurden Schleusen gebaut
Das Projekt wurde allerdings nicht realisiert. Statt eines großen Sperrwerks wurden im 20. Jahrhundert andere Schleusen gebaut, berichtet Hoffmann, etwa die Retischleuse (1924), die Krapphofschleuse (1929) und die Tatenberger Schleuse (1952, Inbetriebnahme). Auch Helmuth Schlingemann befasst sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte der Vier- und Marschlande, auch mit der Historie der Dove-Elbe. „Schon vor 550 Jahren gab es Auseinandersetzungen um diesen natürlichen Seitenarm der Elbe, der 1230 zum ersten Mal er wähnt wird“, sagt der 82-Jährige.
Damals wurde die Dove-Elbe von der südlichen Stromelbe in Altengamme abgedämmt. „Bereits rund 130 Jahre zuvor war die Gose-Elbe abgedeicht worden.“ Daraufhin staute sich das Wasser in der Stromelbe und überschwemmte die niedersächsische Seite, die nur streckenweise mit Deichen geschützt wurde. Winsen und Lüneburg standen unter Wasser.
Besiedlung an der Dove-Elbe war kaum möglich
Die Städte Hamburg und Lübeck, seit 1420 Eigentümer der Vierlande, hatten sich vor der Abdeichung der Dove-Elbe selbst immer wieder mit Überschwemmungen ihres Landes herumplagen müssen. „Eine Besiedlung nahe des Seitenarms war in den Vierlanden kaum möglich“, sagt Schlingemann. Nach der Abtrennung des Seitenarms vom Hauptfluss im Jahre 1471 kam es zu einem Streit zwischen Hamburg/Lübeck und den Herrschern auf der niedersächsischen Seite, dem Herzogtum von Braunschweig und Lüneburg. Der Fall landete nach knapp 20 Jahren vor dem Reichskammergericht – und wurde dort über einen Zeitraum von 130 Jahren behandelt.
1619 dann das Urteil: Die Abtrennung muss rückgängig gemacht werden. Hamburg/Lübeck erhoben Einspruch, woraufhin Kaiser Ferdinand II dann im Jahr darauf ein Mandatum inhibitorum, eine Art einsteilige Verfügung, verhängte: Das Urteil war dadurch zunächst nicht wirksam, die Gewinner in Niedersachsen, inzwischen repräsentiert durch Herzog Christian von Braunschweig-Lüneburg (1599-1626), sollten sich gedulden, bis die Urteilsbegründung vorliegt. Doch der „tolle Christian“ (im Sinne von ungestüm, unberechenbar) wollte nicht warten. Schließlich hatte er Schulden, hoffte auf eine florierende Wirtschaft durch ein Ende der Überflutungen seiner Ländereien.
Der Herzog trommelte 3000 Mann zusammen, „einen wilden Heerhaufen“, sagt Schlingemann. Am 22. März 1620 überquerte er mit seinen Kämpfern nachts um 2 die zugefrorene Elbe in Höhe Zollenspieker. „Weil er auch seine Truppe nicht bezahlen konnte, ließ er sie hemmungslos plündern“, sagt Schlingemann. „Ein wilder Haufen traf auf wohlhabende Vierländer Bauern, die ihr Vieh für den Transport über die Elbe zum Zollenspieker bringen mussten.“ Das Zollgeld am Fähranleger wurde geraubt, Übernachtungsgäste des Fährhauses und auch die Kirchen ausgeplündert. „Das Fährhaus wurde bis auf die Erdgeschossmauern niedergerissen.
Die wilden Horden über das Eis zurückgetrieben
Hamburg/Lübeck schickten nach drei Wochen eine ebenfalls etwa 3000 Mann starke Armee mit Kanonen in die Vierlande und konnte die wilden Horden nach wenigen Tagen über das Eis zurück nach Niedersachsen treiben. Rund 800 Kämpfer überlebten nicht. Ihr Ziel hatten die Angreifer übrigens nicht erreicht: Sie konnten die Dove-Elbe nicht wieder an die Stromelbe anbinden. „Sie konnten den Deich nicht öffnen. Das niedrige, gefrorene Wasser aus der Stromelbe drang nicht in die Dove-Elbe ein“, sagt Schlingemann. „Vermutlich haben die nicht tief genug gegraben.“
„Dieser uralte Streit ist fast in Vergessenheit geraten“, sagt Schlingemann. „Bis mindestens 1868 wurde noch in den Vierländer Kirchen bei Gedenkgottesdiensten des Überfalls gedacht.“ 1868 ging Bergedorf in den alleinigen Besitz Hamburgs über – das Ende des Kondominats, der beiderstädtischen Verwaltung. Lübeck erhielt dafür 200.000 Goldtaler, nach heutigem Wert fünf Millionen Euro. Kurz nach den dramatischen Ereignissen wurde der Boizenburger Vertrag geschlossen, der den streitenden Parteien Frieden bescherte.
Die Städte Hamburg und Lübeck verzichteten auf Reparationszahlungen. „Es gab allerdings im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Forderungen, die Dove-Elbe zu öffnen – so wie heute auch“, sagt Schlingemann. Das Zollenspieker Fährhaus wurde 1621 wieder aufgebaut, in den Jahren darauf zu einer Festung mit Kanonen ausgebaut. „Einige der alten Festungsmauern stehen heute noch.“ Die Niedersachsen antworteten mit der größeren Hoopter Schanze, die gegenüber errichtet wurde. „Von dieser Festung steht kein Stein mehr. Gelegentlich werden noch Gewehrkugeln aus Blei am früheren Standort gefunden.“ Zwischen den Festungsanlagen habe es aber lediglich „kleinere Scharmützel gegeben.“
Schlingemann, verwitweter Vater zweier erwachsener Söhne, lebt in Dassendorf, davor mehr als 40 Jahre in Börnsen. Aufgewachsen ist er in Detmold in Ost-Westfalen. „Schon als Achtjähriger wollte ich eine alte Burg ausgraben“, sagt er und lacht. Nach seinem Examen 1965 begann der junge Architekt, sich auch sehr für Kulturgeschichte zu interessieren. Schlingemann war 1995 der zuständige Architekt für die Restaurierung des alten Zollenspieker Fährhauses. In Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege plante er unter anderem die neue, moderne Küche für als älteste weltliche Baudenkmal der Hansestadt außerhalb von Neuwerk.
„Das Fährhaus wird 1252 das erste Mal urkundlich erwähnt“, sagt er. Bodo Sellhorn († 2007) hatte das marode und heruntergekommene Fährhaus von der Stadt Hamburg für eine Deutsche Mark gekauft, nachdem es zehn Jahre nicht genutzt worden war. „Er wollte für die Restauration sechs Millionen Mark ausgeben – und investierte schließlich 24 Millionen Mark“, sagt Schlingemann. Der 82-jährige war erst vor wenigen Tagen mit seiner Lebensgefährtin Karin Wecke-Meyer an der Dove-Elbe unterwegs: „Schließlich sollte man auch kennen, worüber man schreibt.“