Bergedorf. Bergedorf. Interview mit Gründungsmitglied Philipp Grütering: „Wir wollen alle den Kopf freikriegen“.

Philipp Maria Grütering wuchs in Bergedorf auf, besuchte das Hansa-Gymnasium. Seit seiner Jugend macht der 43-Jährige, der mit seiner Familie in Berlin-Pankow lebt, Musik. Er hat es geschafft, kann mit seiner Leidenschaft Geld verdienen: Grütering ist Gründungsmitglied der Gruppe Deichkind, die seit 20 Jahren existiert. Auf den Namen Deichkind kamen die Musiker, weil Ex-Member Malte Pittner einst in den Vierlanden lebte und sich damals auch die Bergedorfer Rapper als „Crew vom Deich“ fühlten.

Vor wenigen Tagen spielten die Tech-Rapper, die für ihre spektakulären Bühnenshows bekannt sind, ihr bislang größtes Konzert (Festival-Auftritte ausgenommen) – vor 17 000 Fans in der ausverkauften Berliner Wuhlheide. Wir trafen den Bergedorfer mit dem Künstlernamen Kryptik Joe in einem Café auf St. Pauli, sprachen mit ihm über die Erfolge von und Pläne für Deichkind, Popularität und Bergedorf.

Wie ist das für Dich inzwischen, vor Tausenden oder Zehntausenden Menschen aufzutreten?

Philipp Grütering: Das ist immer noch etwas Besonderes – und erfordert einen immensen logistischen Aufwand. Denn je mehr Leute zu unseren Konzerten kommen, desto größer muss die Bühne sein, die wir brauchen. Schließlich wollen wir den Konzertbesuchern eine ordentliche Show bieten. Unsere Auftritte sind deshalb sehr aufwendig und choreografiert. Auf Tour gehören fast 40 Leute zum Team von Deichkind. Wir düsen dann mit vier Trucks und zwei Nightlinern die A 7 rauf und runter. Unsere Werkstatt- und Lagerräume in der Hamburger City haben wir uns früher mit Jan Delay geteilt, aber irgendwann hat der sich ein neues Plätzchen für seine Requisiten gesucht, weil wir immer mehr angeschleppt haben. Aber im Vergleich zu Rammstein ist der Aufwand bei uns ja noch überschaubar.

Du bist gerade zum dritten Mal Vater geworden. Begleitet Dich Deine Familie auf Tourneen, ist sie bei Konzerten dabei?

Nein, normalerweise nicht. Das Leben auf Tour ist auch nicht immer so aufregend. Außerdem hat meine Frau ihren eigenen Beruf. Und die Kinder sind ja noch sehr jung.

Wie bereitet Ihr Euch auf Eure aufwendigen Auftritte vor?

Wir proben, improvisieren dabei viel, bis die Abläufe so funktionieren, wie es uns gefällt. Geprobt wird in Berlin oder in Hamburg, etwa auf Kampnagel.

Bist Du der Chef der Band?

Bei uns gibt es keinen Chef, nur einen harten Kern. Der besteht neben mir aus DJ Phono, Porky und Ferris. Porky, also Sebastian Dürre, und ich schreiben die Songs, aber jeder gibt seinen Senf dazu. Oft sind noch andere involviert, weitere Rapper oder unser Produzent Roland „Roy“ Knauf, der auch bei Seeed trommelt und Musikalischer Direktor bei Materia ist. Ich habe ein Tonstudio in Berlin. Dort haben wir die letzten beiden Deichkind-Alben produziert.

Bist Du häufig in Bergedorf?

Ja, schließlich leben meine Mutter und meine Schwester hier. Vor Kurzem war ich im Schloss und habe mir die Ausstellungen angesehen. Ich schlendere auch gern durchs Sachsentor und schaue, ob ich jemanden von früher treffe.

Und?

Ja, das kommt vor. Letztens traf ich den Vater einer Schulfreundin. Das war nett, nach so vielen Jahren. Er wusste sogar, dass ich Musik mache.

Wirst Du auf der Straße erkannt?

Manchmal. Dann spricht mich so ein junger Mensch in der S-Bahn an und fragt ,Bist Du nicht der von Deichkind?’ Dann sage ich: ,Ja, bin ich’. Aber Ferris wird viel häufiger angesprochen, das ist mir auch sehr recht. Er bleibt am liebsten zu Hause, da hat er seine Ruhe. Dass es Deichkind schon 20 Jahre gibt und wir inzwischen die Graubärtigen sind, wurde mir neulich bewusst, als ich mit dem Sänger von Kraftclub sprach. Er erzählte, dass er sich vor 17 Jahren, als er noch klein war, ein Autogramm von mir geben ließ. Daran konnte ich mich übrigens nicht erinnern.

Wer kümmert sich um Euren Internet-Auftritt? Eine Agentur?

Nein, wir haben festgestellt, dass wir Musiker das schon selbst mit Inhalten füllen müssen. Schließlich geht es darum, als Band die Fans auf dem Laufenden zu halten. Denn das Netz ist natürlich wichtig. Als unser Song ,Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)’ 2006 bei My Space eine Million Plays hatte, haben wir eine Flasche Schampus aufgemacht. Heute haben wir 750 000 Follower bei facebook und auch viele bei Instagram.

Wie geht es mit Deichkind weiter?

Wir spielen diesen Sommer neun Open-Air-Konzerte, auch in Hamburg. Da sind wir am 25. August auf der Trabrennbahn in Bahrenfeld. Nach einigen Monaten Bühnenabstinenz ist ein Auftritt vor 15 000 Leuten ein ganz schöner Kaltstart. Deshalb haben wir zum Warmwerden in Dresden und Mönchengladbach Club-Gigs gespielt, für die die Eintrittskarten verlost wurden. Das ist uns auch irgendwie abhanden gekommen, diese kleinen Konzerte. Für 2018 sind keine Auftritte geplant.

Was macht Ihr stattdessen?

Als Deichkind nicht viel, denn das nächste Album wird frühestens 2019 erscheinen. Damit lassen wir uns Zeit. Wir wollen alle mal den Kopf freikriegen, reisen, uns neuen Input holen, ins Kino gehen, Ausstellungen besuchen, Bücher lesen, durchatmen und sich treiben lassen. Wir haben als Band viel durchgezogen, besonders in den vergangenen zehn Jahren.

20 Jahre Deichkind

Deichkind wurde 1997 von den Bergedorfern Philipp Grütering, Malte Pittner und Bartosch Jeznach gegründet. Die Besetzung hat sich seitdem mehrfach verändert. In dem Song „Fachjargon“, dem ersten Lied seines Debütalbums „Bitte ziehen Sie durch“ aus dem Jahr 2000, rappt das Trio „( . . . ) wir machen Schlagzeilen wie die Bergedorfer Zeitung“.

Der Durchbruch gelang Deichkind aber mit dem vierten Track: „Bon Voyage“ war ein Hit im Radio und Musikfernsehen. Mitte der 2000er-Jahre änderte sich der Musikstil. Deichkind wurde elektronischer. 2006 haute die Gruppe dann „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“ raus, ein Lied, das von zahlreichen Musikern, darunter Nena und die mexikanische Band Panteón Rococó, gecovert wurde. Jan Delay bezeichnete es als „bester Song der vergangenen zehn Jahre“. Viele Hits folgten: „Luftbahn“ (2008), „Leider geil“, „Bück dich hoch“ (beide 2012), „Denken Sie groß“, „So’ne Musik“ und „Like mich am Arsch“ (alle 2015).

Mit dem Album „Befehl von ganz unten“ kamen die Bergedorfer 2012 auf Platz zwei der deutschen Charts. Das Nachfolge-Werk „Niveau weshalb warum“ stieg von null auf eins in die Charts ein. Dies ist keiner anderen Bergedorfer Band gelungen.

Von den beiden jüngsten Deichkind-Alben wurden jeweils mehr als 200 000 Exemplare verkauft. Die Bergedorfer Gruppe wird auch von den Kritikern geliebt. 2015 erhielt die Truppe bei der Echo-Verleihung den „Kritikerpreis National“ – eine der wenigen Auszeichnungen, die nicht auf Verkaufszahlen beruhen.