Reinbek. Wenn Irene Färber morgens ihren schokobraunen Labrador Ben in den Wäldern rund um Bergedorf ausführt, ist sie weit entfernt von prall gefüllten Aktenordnern, dicken Gesetzesbüchern und kniffeligen juristischen Fällen. Im Amtsgericht Reinbek jedoch erinnert an den treuen Familienhund nur eine Fotografie hinter ihrem Schreibtisch.

Alles hat im Alltag der 45-Jährigen seinen Platz und seine Zeit. Etwa fünf Stunden pro Tag widmet sich die Rechtspflegerin voll und ganz der Juristerei.

Und dabei ist sie täglich mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Eine davon liegt derzeit in einer beigefarbenen abgegriffenen Aktenmappe auf ihrem Tisch. Sie enthält ein menschliches Schicksal, das die Mutter zweier Teenager nicht kalt lässt und ihr schon einige schlaflose Nächte bereitet hat. „Ich muss prüfen, ob eine seit fast 30 Jahren verschwundene Wentorferin für tot erklärt werden kann“, sagt Färber. Die Tochter der Vermissten hatte einen entsprechenden Antrag an das Amtsgericht gerichtet. Ein vergleichbarer Fall ist der Rechtspflegerin noch nicht untergekommen.

Amtsgericht Reinbek Justitia1
Amtsgericht Reinbek Justitia1 © Anne Müller | Anne Müller

Auch die Bergedorfer Zeitung berichtete damals über den mysteriösen Fall, der die Kriminalpolizei in Geesthacht über Monate in Atem hielt. Die damals 34-jährige alte Ehefrau und Mutter einer zehnjährigen Tochter hatte am 8. Juni 1980 das Haus verlassen und ist seitdem spurlos verschwunden. Ob die Sprechstundenhilfe einem Verbrechen zum Opfer fiel oder an einem anderen Ort einfach ein neues Leben begonnen hat, konnte bis heute nicht geklärt werden.

„Die Vermisste trug eine rote Cordjacke und eine rote Cordhose, ist 1,60 Meter groß, schlank, hat dunkelbraune Haare und trägt gelegentlich eine Brille“, hieß es 1980 im Fahndungsaufruf der Polizei. „Die Kriminalpolizei hat in alle Richtungen ermittelt“, sagt Färber heute, die sich von der Staatsanwaltschaft die Akten besorgte und sehr tief in den Fall eingestiegen ist. Dabei nimmt sie allerdings nicht die Rolle einer Ermittlerin ein. Dennoch muss sie sich fragen, wie wahrscheinlich es ist, dass die Wentorferin noch lebt. „Wenn ich einen im Krieg verschollenen Mann für tot erklären soll, der heute schon über hundert Jahre alt wäre, ist die Entscheidung einfacher. Die Wentorferin wäre heute aber erst 64 Jahre alt. Sie könnte noch leben“, so Färber.

Bei der Beantwortung der schwierigen Frage kann sie jedoch systematisch vorgehen und sich an einem festgeschriebenen Verfahren orientieren. Zunächst muss sie klären, ob die Tochter überhaupt beantragen kann, ihre Mutter für tot zu erklären. Antwort gibt das sogenannte Verschollenheitsgesetz. Antragsberechtigt sind demnach Ehepartner und Kinder und jeder andere, der ein rechtliches Interesse daran hat – beispielsweise ein möglicher Erbe. Schwierig wird es dann, wenn in einer Familie nur ein Angehöriger die vermisste Person für tot erklären lassen möchte, andere aber nicht. „Davor habe ich großen Respekt. Ich kann es verstehen, dass man nach so langer Zeit einen Schlussstrich ziehen und mit der Trauerarbeit beginnen möchte. Andererseits ist es auch verständlich, wenn beispielsweise ein Ehemann die Hoffnung nicht aufgeben möchte“, sagt Färber.

Zum Glück muss sie keine moralische Entscheidung treffen, sondern sich rein an juristische Fakten halten. Im Fall der Wentorferin verschickte sie Fragebögen an die Familienmitglieder. Wann haben sie die Vermisste zuletzt gesehen? Gibt es ein Lebenszeichen? Für wie wahrscheinlich halten sie es, dass sie noch lebt? Bei ihrer Recherche wendete sich die Rechtspflegerin zudem an den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes und holte eine Stellungnahme bei der Staatsanwaltschaft ein. Zuletzt gab sie in unserer Zeitung ein Aufgebot auf. Die Vermisste wird darin aufgerufen, sich bis zum 15. Juni im Amtsgericht zu melden. Ansonsten könne sie für tot erklärt werden. Passiert ist bislang nichts. Das Telefon blieb still.

„Ein Todesklärungsverfahren ist etwas anderes, als jemandem mitzuteilen, wie viel ihn ein Gerichtsverfahren gekostet hat“, gibt die sympathische Bergedorferin zu. Das, was ihr hilft, eine Entscheidung zu treffen: „Dieses Verfahren ist keine Einbahnstraße. Sollte die Vermisste doch wieder auftauchen, kann die Todeserklärung rückgängig gemacht werden.“

Ein großes menschliches Schicksal, das plötzlich zwischen zwei beigefarbenen Aktendeckeln dokumentiert auf ihrem Schreibtisch lag. Und eines, das auch nach 30 Jahren noch viele Fragen offen lässt.