Altengamme. Passprobleme, Schnee und ein Rennen, das in der Sackgasse endet: Die Reise zur Masters-WM in Sarajewo wurde zum Abenteuer.

Kurz vor der kroatisch-bosnischen Grenze stehend, wurde Christian Hamburg, Hajo Drews und Lars Geisler klar, dass sie ein Problem hatten. „Der Pass von Lars war abgelaufen“, erinnert sich Christian Hamburg, Chef des Einrichtungshauses Ewald Hamburg, schmunzelnd. Nach 20 Stunden Fahrt war für das Altengammer Radsport-Team von Hacht Umkehren jedoch keine Option. Also war Tarnen und Täuschen angesagt!

Die Reise ins Ungewisse hatte schon holprig begonnen. Am Tag vor der Abfahrt war Christian Hamburg bei der letzten Trainingsfahrt die elektronische Schaltung seines Rades um die Ohren geflogen. „Material für 450 Euro hat sich innerhalb von ein paar Sekunden geschrottet“, schüttelt er den Kopf. „Ein Glück, dass wir als Masters-Team für den Radsport-Hersteller von Hacht fahren, sonst wäre es kaum möglich gewesen, so schnell Ersatz zu beschaffen.“ Einige Stunden des Schraubens später war er trotzdem frustriert: Die Technik wollte nicht. „Ich wusste nicht, woran es lag, und Youtube wusste es auch nicht.“ So musste auf der elend langen Anreise im Campervan zu den Masters-Weltmeisterschaften in Sarajewo auch noch ein zusätzlicher Stopp bei einem Radgeschäft her. Dort fand man den Fehler: ein veralteter Akku. „Da war sich das Team einig, dass ich die nächsten sieben Jahre sämtliche Getränke zu sponsern hätte“, gibt Hamburg zerknirscht zu.

Die Zöllner an der Grenze erfolgreich ausgetrickst

Stunden später an der Grenze. Neugierig schaut der kroatische Zöllner in den Campervan: „Wer ist High­tower?“ Den 2,02-Meter-Riesen Lars Geisler, den sie im Team ab sofort nur noch „Hightower“ nennen, hatten sie vorsichtshalber nach hinten ins Fahrzeug gesetzt. Ein kurzes Winken, ein gewinnendes Lächeln – „Weiterfahren, bitte!“ „Dem bosnischen Grenzposten haben wir dann alles auf einmal in die Hand gegeben – Reisepässe, Impfausweise, Handys mit Corona-App“, schildert Hamburg. Es funktionierte. Ein genervtes „Ich brauche nur die Pässe“ und einige Sekunden bangen Herzklopfens später ist der Weg nach Sarajewo frei. Endlich! „Jetzt“, dreht sich Hamburg in Richtung Geisler um, „steht es unentschieden, was die sieben Jahre angeht.“

Sarajewo – 1984 Schauplatz der Olympischen Winterspiele, bei denen Peter Angerer sensationell Gold im Biathlon holte, das Eistanz-Paar Jayne Torvill/Christopher Dean mit seinem „Bolero“ die Welt verzauberte und sich Katarina Witt zur Eiskönigin aufschwang. Wohl niemand hätte sich in der fröhlichen Atmosphäre damals vorstellen können, dass die Stadt nur wenige Jahre später Schauplatz eines furchtbaren Bürgerkrieges sein würde. „Man sieht an den Häusern teilweise noch die Einschusslöcher oder auch mal ein zerstörtes Gebäude“, weiß Hamburg zu berichten. „Und dann gibt es wieder ganze Straßenzüge, bei denen man glaubt, man sei in Hamburg.“

Modellathlet Lars Geisler flieg beim Zeitfahren zu Platz sechs

Beim ersten Wettbewerb der Masters-WM, dem Einzelzeitfahren, schwingen sich die Hamburger gleich zu sportlichen Höhenflügen auf. Allen voran Lars Geisler. Der Modellathlet trommelt die anspruchsvolle 20-Kilometer-Strecke mit einem Schnitt von über 40 Kilometern pro Stunde herunter – Platz sechs in der Altersklasse der Über-50-Jährigen. Christian Hamburg (Ü45) kommt auf den 17. Platz.

Dann der Mannschaftswettbewerb: Das Team Deutschland besteht zu drei Vierteln aus dem Altengammer Team. Nur Christina Strößner muss infolge einer Verletzung passen. Doch eine Frau pro Team ist Pflicht, ebenso wie ein Ü50- und ein Ü40-Fahrer. Charmanten Ersatz finden die Nordlichter in der Bayerin Valeria Rechenauer. Die ist Siebte im Einzelzeitfahren der Ü19-Frauen geworden. „Mit so einer leistungsstarken Fahrerin hatten wir uns schon Medaillenchancen ausgerechnet“, gibt Hamburg zu.

Startfahrer Lars Geisler hängt dann auch gleich das gesamte Feld ab, übergibt als Führender mit 15 Sekunden Vorsprung auf Hamburg. „Da war natürlich Adrenalin ohne Ende da und der Wille, jetzt was zu reißen“, sagt er. Doch Hamburg hat ein Problem: Ihm sitzt der frischgebackene Masters-Weltmeister Andrej Gucek im Nacken. In der ersten von drei Runden kann er den Favoriten auf Distanz halten. Dann zieht Gucek vorbei und führt Slowenien zum Mannschaftsgold.

Sackgasse kostet die Deutschen mögliche Bronzemedaille

Hamburg übergibt als Zweiter auf Valeria Rechenauer. Die hat sich auf der Rolle warm gefahren, kennt die Strecke noch nicht. Das soll sich rächen. Denn die Bayerin missdeutet die Handbewegung eines Streckenpostens und rast in eine Sackgasse. Bevor sie ihren Irrtum korrigieren kann, sausen die USA und Tschechien vorbei. Schlussfahrer Hajo Drews kann das nicht mehr aufholen. Es bleibt bei Platz vier.

Zurück im Camper klingelt das Telefon: Das Gesundheitsamt aus dem fernen Deutschland ist dran: „Begeben Sie sich unverzüglich in Quarantäne!“ Lars Geisler hatte beruflich ein Seminar abgehalten, bei dem ein Teilnehmer coronapositiv war. Was nun? In zwei Tagen steigt der Höhepunkt der WM, das große Straßenrennen. „Zum Glück wurden wir ohnehin regelmäßig getestet“, schildert Christian Hamburg. Eine E-Mail mit dem negativen Testbericht ans Gesundheitsamt schafft das Problem aus der Welt.

Beim Straßenrennen warten 2270 Höhenmeter – und Schnee!

Dafür fallen die Temperaturen. Schnee! „Bei der Ankunft hatten wir 25 Grad. Jetzt wurden die Prognosen immer schlechter“, erzählt Hamburg. Das Team von Hacht hat sein Quartier in den Bergen der Jahorina, 1984 Schauplatz der Ski- Wettbewerbe. Dort wird das Ziel des Straßenrennens sein: 2270 Höhenmeter auf 100 Kilometer Strecke. „Das ist schon brutal“, betont Hamburg. Nicht nur die Aufstiege werden jetzt zum Problem, sondern auch die eisigen Abfahren. Er zieht vier Trikots übereinander an: einen Windstopper, darüber zwei Regentrikots und außen das Deutschland-Trikot. Doch wird das reichen?

Wie gut, dass sie Hajo Drews im Team haben, der früher in den USA lebte und dort bei Amateurrennen einen gewissen Lance Armstrong abhängte. Er bleibt unbeeindruckt. „Hajo hat aus dieser Zeit so eine gewisse ,Tschakka-Mentalität‘“, weiß Hamburg. Drews ist einer der wenige älteren Teilnehmern, die das Rennen durchstehen, und er hilft Lars Geisler dabei, einen glänzenden neunten Platz zu erreichen.

Die helfende Nahrung flutscht durch die klammen Finger

Und Christian Hamburg? Der quält sich den Schlussanstieg hoch, nachdem ihm eine Tube Energie-Gel durch die eisigen Finger geflutscht ist. „Ich hätte viel früher anfangen müssen zu essen“, hadert er mit sich. Entkräftet erreicht er das Ziel auf einem guten 20. Platz. „Angefühlt hat es sich, als wäre ich 70. geworden“, gibt Hamburg zu. „Erst im Ziel habe ich gemerkt, dass die anderen wohl auch so ihre Probleme hatten.“ Mit einer Fülle an Eindrücken geht es zurück nach Deutschland. „Alles wirkt sehr westlich, und die Menschen in Sarajewo sind super freundlich und sehr warmherzig“, hat Hamburg erfahren. Die Rückfahrt verläuft dann ohne Probleme – etwas ganz Neues auf dieser Abenteuer-Reise.