Dassendorf. Ein 68-facher Nationalspieler bei einem Fußball-Oberligisten? Das gibt es mit Martin Harnik in Dassendorf.
Ohrenbetäubender Lärm dröhnt aus der engen und kargen Umkleidekabine der alten Schulsporthalle, in der sich die Fünftliga-Fußballer der TuS Dassendorf für das Training umziehen. Sie haben den Ghettoblaster bis zum Anschlag aufgedreht. Es sind lediglich Wortfetzen zu verstehen. Die Kommunikation der Feierabend-Kicker dreht sich um den enttäuschenden Auftritt am vergangenen Freitag beim Bramfelder SV (1:1), die Freizeitgestaltung am Wochenende und um Social-Media-Einträge.
Für Martin Harnik muss dies alles nach 13 Jahren als Profi ein Kulturschock sein. Doch der 68-malige österreichische Nationalspieler, der seinen Vertrag beim Bundesligisten Werder Bremen am Vortag aufgelöst hatte, fühlt sich in der neuen Umgebung sichtbar wohl. Er unterhält sich angeregt und flachst mit den anderen Akteuren, bevor er sich ihnen als Neuzugang vorstellt.
Nach 240 Bundesliga-Einsätzen und 83 Partien in der 2. Liga hat der Angreifer einen Schlussstrich unter seine Laufbahn als Berufsfußballer gezogen und geht künftig für den Dorfclub in der Oberliga auf Torejagd – eine Sensation im Hamburger Amateurfußball. „Ich bin gespannt, wann meine Gänsehaut aufgrund dieses Transfers wieder verschwindet“, sagt TuS-Ligamanager Alexander Knull.
Statt HSV die Dassendorfer Turnhalle
Knull ist großer Fan des Hamburger SV. Des Clubs also, für den Harnik in der vergangenen Saison auf Leihbasis stürmte. Doch der Aufstieg misslang, die Kaufoption für den 33-Jährigen verfiel. Er kehrte zu Werder zurück, wurde beim Bundesligisten mangels sportlicher Perspektive aber bald darauf vom Training freigestellt. Am vergangenen Wochenende wurde der noch ein Jahr gültige Kontrakt aufgelöst. Am Montagabend räumte Harnik dann einen kleinen Spind in der Dassendorfer Turnhalle ein.
„Ich wollte in erster Linie wieder Fußball spielen. Meine Optionen waren auf eigenen Wunsch sehr begrenzt, weil meine Familie und ich jetzt hier sesshaft werden wollen. Deshalb kam fairerweise eigentlich nur noch der HSV für mich infrage. Die Option hat sich aber nicht mehr geboten. Und so war für mich klar, dass der nächste Schritt Dassendorf ist“, erklärte der zweimalige Europameisterschafts-Teilnehmer.
Nie Kontakt zu Jugendfreunden verloren
Harnik, der 2006 mit Max Kruse vom SC Vier- und Marschlande nach Bremen gewechselt war, baut in der Nähe seiner neuen sportlichen Heimat gerade ein Haus. Er und seine Frau betreiben hier auch eine Pferdezucht. Dass sie nach dem Ende der Profikarriere des Stürmers wieder aufs platte Land zurückkehren würden, war immer klar.
Der in Kirchwerder aufgewachsene Harnik hat seine Wurzeln nie vergessen, unterstützt seinen Jugendclub SCVM seit vielen Jahren mit Equipment und auch finanziell. Die frühere A-Jugend des Vereins, die 2006 sensationell in die Bundesliga aufstieg, unterhält noch heute eine WhatsApp-Gruppe, „in der viel Blödsinn geschrieben wird“, wie der 33-Jährige berichtet. Neben ihm und Kruse ist dort auch Jean-Pierre Richter Mitglied. Sein ehemaliger Mannschaftskamerad ist nun sein Trainer.
„Natürlich ist er als Stürmer ein Hauptgewinn für jeden Verein, und ich speziell freue mich besonders auf den Typen Martin Harnik in der Kabine und auf dem Platz“, sagt Richter. Doch nicht nur wegen „Jonny“, wie der Coach gerufen wird, hat sich der Ex-Nationalspieler für ein Engagement bei der TuS entschieden. „Ich habe mit Mattia Maggio meinen Schwager im Team und mit Rinik Carolus habe ich noch in der Hamburger Auswahl zusammen gespielt. Es gab viele Gründe, dann hier anzukommen. Und ich bin auch vom Konzept hier überzeugt und finde, dass die Mannschaft echt guten Fußball spielt“, erklärt Harnik.
„Hätte mir 1. und 2. Bundesliga zugetraut“
Bramfeld statt Bayern und Meiendorf statt Mönchengladbach heißt es nun also für den Champions-League-erfahrenen Fußballer. „Ich hätte mir die 1. oder 2. Bundesliga definitiv noch zugetraut, habe mir die Optionen aber selbst begrenzt“, sagt der Torjäger. Es kam ihm bei seiner Entscheidung, die Profikarriere zu beenden, auch zugute, dass er sich frühzeitig ein zweites Standbein neben dem Fußball aufgebaut hat. Er ist Gesellschafter der Firma „Party Helden“ und betreibt gemeinsam mit Daniel Ginczek (VfL Wolfsburg) in Stuttgart den Gourmet-Fleischtempel „Meat Club“. Langweilig wird es dem Hunde-Liebhaber also bestimmt nicht.
Apropos Langeweile: Diese kommt auch bei Harniks erstem Training nicht auf. Bereits nach wenigen Minuten müssen er und seine neuen Teamkameraden die Platzseite tauschen. „Wir sollen die hier nicht kaputt treten“, ruft Coach Richter seinen Schützlingen zu. Also werden flugs die Tore über die Mittellinie geschleppt. Beim Spiel sechs gegen sechs ist Harnik freier Mann. „Ich habe definitiv noch Nachholbedarf“, erklärt der 33-Jährige. Zuletzt hatte er sich individuell fitgehalten. Verlernt hat er aber nichts, trifft gleich ein paar Mal.
Eine Kiste Bier zum Einstand muss sein
Dann endet der Abend bei Ghettoblaster-Gedröhne und Bier in der kleinen Umkleidekabine. Auch als Ex-Bundesliga-Star ist Harnik von den „Pflichten“ eines Amateurfußballers nicht entbunden: Er muss zu seinem Einstand eine Kiste Gerstensaft ausgeben.