Geesthacht. Als die Deutschen Meisterschaften anstanden, kam Corona. Jetzt nimmt Laura Brakmann einen neuen Anlauf.
Es schien nur eine Routineübung zu sein. Am Schlaufenreck übte die Geesthachter Kunstturnerin Laura Brakmann im April 2019 ein neues Element für den Stufenbarren ein. Dabei ist die Sportlerin mit Schlaufen am Gerät festgebunden. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Normalerweise. Doch an diesem Tag war nichts normal. Durch einen Materialfehler brach eine Schweißnaht, eine Stange riss aus der Verankerung, das Reck brach über der damals Elfjährigen zusammen. „Zum Glück stand ein Kasten darunter, da lag Laura dann dazwischen“, erinnert sich ihre Trainerin Birgit Kruse, „ich habe schnell zugefasst, um Druck von ihren Händen zu nehmen. Sie hat wirklich Glück gehabt. Das hätte ganz anders ausgehen können.“
Nach dem Unfall „irgendwie leer“
Schon beim anschließenden Arztbesuch zeigte sich, was für eine Kämpferin die Geesthachterin ist. „Sie hat gesagt: ,Nein, ich will keinen Gips, ich will trainieren’“, erinnert sich Kruse. Denn im Mai 2019 standen die Deutschen Jugend-Meisterschaften an, für die sich Laura erstmals qualifiziert hatte. Und tatsächlich: Sie trat an und belegte den 30. Platz. „Aber wir waren ja froh, dass sie überhaupt dabei war“, betont ihre Mutter Meike Brakmann. „Sie wirkte während des Wettkampfs irgendwie leer“, erinnert sich Kruse.
Eineinhalb Jahre ist das nun her, doch die Freude am Turnen haben die damaligen dramatischen Ereignisse Laura nicht nehmen können. Sie zählt zu Norddeutschlands größten Hoffnungen in diesem Sport. „Zum Glück wirkt das nicht nach“, hat die Trainerin erleichtert registriert, „sie hat das besser verkraftet als viele Mädchen, die drumherum standen.“
Sechsmal pro Woche drei bis vier Stunden Training
Laura Brakmann lebt fürs Kunstturnen. Sechsmal pro Woche feilt die mittlerweile zwölfjährige Geesthachterin jeweils drei bis vier Stunden lang an ihren Elementen für die vier Geräte Sprung, Stufenbarren, Boden und Schwebebalken. „Sie ist eine ganz liebe, zuverlässige, fleißige, talentierte Turnerin“, schwärmt Kruse, „sie ist sehr zurückhaltend, aber mit ihren zwölf Jahren bereits sehr selbstbestimmt. Sie weiß, was sie will, so wie damals beim Arzt.“
Zum Turnen kam die Geesthachterin als Sechsjährige, weil sie unbedingt einmal so eine Schnitzelgrube sehen wollte, die Turnerinnen weiche Landungen ermöglicht. „Beim „Tag des Sports“ in Kiel wurde ihr Talent prompt entdeckt. Seit mehr als fünf Jahren trainiert sie nun schon im Hamburger Leistungszentrum bei Birgit Kruse sowie in Winsen an der Luhe bei deren Tochter Christina Kruse. Dort hat die KTG Lüneburger Heide ihren Heimat, Lauras Verein. Jede Woche so viel Zeit miteinander zu verbringen, schweißt zusammen. „Sie grinst einen verschmitzt an, und dann weiß ich ganz genau, was sie will“, schildert Birgit Kruse schmunzelnd.
Platz unter den besten 15 in Deutschland als Ziel
Lohn der Mühe sollte im März nun ihr zweiter Start bei Deutschen Jugend-Meisterschaften sein, für die sich Laura gleich beim allerersten Wettkampf des Jahres qualifiziert hatte. Und das mit 43 Punkten überaus souverän. Die Norm lag bei 39 Zählern. „Sie war also nicht nur knapp qualifiziert, sondern richtig gut dabei“, freut sich Birgit Kruse. „Sie wollte besser als letztes Mal sein“, betonte Meike Brakmann, „schön wäre ein Platz unter den besten 15 gewesen.“
Doch zwei Wochen vor den Titelkämpfen machte der Corona-Lockdown den Traum von den Titelkämpfen zunichte. Von einem Tag auf den anderen stand die auf Hochleistungssport ausgerichtete Athletin und ihre Teamkolleginnen von der KTG Lüneburger Heide vor der Situation, nicht mehr trainieren zu können. Erfindungsreichtum war gefragt. Die Turnerinnen übten im Park, machten auf verwaisten Schulhöfen Spielplätze mit Reckstangen ausfindig, die sie nutzen konnten. Laura trainierte auch im heimischen Garten auf dem Airtrack, einer Luftkissen-Laufbahn, die für Sprungbahnen genutzt wird. „Sie hat das Homeschooling gleich ausgenutzt und trainierte jetzt zweimal statt einmal am Tag, morgens vor dem Unterricht und nachmittags“, staunte Meike Brakmann über den Ehrgeiz ihrer Tochter.
Es dauert gut ein halbes Jahr, bis ein Element sitzt
Neben Laura hat sich mit Zoe Hiller aus Winsen an der Luhe noch eine zweite Athletin für die „Deutschen“ qualifiziert. Die ist das ganze Gegenteil der Geesthachterin: klein, drahtig und überaus extrovertiert. „Und sie mag keine Kraftübungen“, schmunzelt Kruse.
Die Titelkämpfe sollen Ende November in Esslingen nachgeholt werden. Das gibt den Sportlerinnen viel Zeit, noch neue Elemente einzustudieren. „So ein halbes bis Dreivierteljahr dauert es schon, bis ein Element so sicher sitzt, dass man es auf einer Meisterschaft zeigen kann“, schätzt Kruse. Je schwieriger ein Element ist, desto höher ist der technische Ausgangswert, desto größer ist aber auch die Gefahr von Haltungsfehlern, die dann im Wettkampf wertvolle Punkte kosten.
Blinder Rückwärts-Flug ins Nichts
Kruse, die Gesundheitsmanagement, Sportpsychologie und Coaching studiert hat, führt ihre Sportlerinnen daher zunächst mental an neue Elemente heran, lässt sie die Bewegungsabläufe im Kopf durchgehen, bevor es dann ans Gerät geht. Laura übt gerade den Pak Salto am Stufenbarren, eine besonders knifflige Angelegenheit, die von einer Turnerin viel Mut verlangt. Denn sie muss im Anschluss an eine Riesenfelge den Schwung mitnehmen und rückwärts in Richtung unteren Holm hechten, ohne diesen anfangs überhaupt sehen zu können. Und wenn sie ihn dann erfolgreich zu fassen kriegt, ist es noch nicht vorbei, sondern sie muss alle Konzentration aufwenden, um mit den herumschleudernden Beinen nicht den Boden zu berühren.
Eine ganz schöne Herausforderung. „Man muss den Moment finden, in dem eine Sportlerin für ein Element bereit ist“, verrät Kruse ihr Geheimnis. Und bei Laura Brakmann kann sie sich sicher sein: Die Überfliegerin ist immer bereit für ihren nächsten Höhenflug.