Fünfhausen. In unserer Serie „Magische Momente“ geht es heute um den Bundesliga-Aufstieg der A-Junioren des SCVM.

Es gibt sie in jedem Sportverein: die magischen Momente. In einer Serie stellen wir Höhepunkte aus der Geschichte unserer Vereine vor. Heute: der Aufstieg der
A-Junioren des SC Vier- und Marschlande in die Bundesliga.

Die Andenken aus seiner Zeit als Jugendfußballer hat Jean-Pierre Richter im Haus seiner Eltern verstaut. Wenn er darin stöbert, hat der heutige Trainer des Oberligisten TuS Dassendorf den größten Triumph seiner Spielerkarriere schnell wieder vor Augen. Denn bei den Pokalen und Urkunden liegt der silber-blaue Adidas-Ball, mit dem die A-Junioren des SC Vier- und Marschlande am 4. Juni 2006 im Relegationsrückspiel gegen den FC Carl Zeiss Jena sensationell den Bundesliga-Aufstieg schafften.

„Der Ball gehörte unserem Kapitän Patrick Papke. Er hat damit trainiert, und wir haben ihn an den Wochenenden als Spielball genommen“, berichtet Richter, der die Kugel an jenem historischen Tag in Fünfhausen auch einmal im Gehäuse der hochfavorisierten Thüringer unterbrachte.

In Jena verloren

Es ist ein lauwarmer und recht windiger Pfingstsonntagmorgen, an dem die Entscheidung um den Aufstieg fällt. In Jena hat der SCVM mit 1:2 verloren. Nun wollen die „Red Devils“, wie das Team auch bezeichnet wird, vor heimischer Kulisse für die Riesensensation sorgen. „Nach dem Hinspiel, in dem wir glücklich noch das 1:2 geschossen hatten, war im Rückspiel einfach alles möglich. Und wir wollten damals Dorf-Geschichte schreiben“, erinnert sich Papke. Sein Coach Thorsten Beyer weiß noch genau, welche Marschroute er damals ausgegeben hatte: „Unser Plan war es, in der ersten Halbzeit abwartend zu spielen, da ein Gegentor ja beinahe schon der Genickbruch gewesen wäre. In der zweiten Hälfte wollten wir dann voll attackieren.“

Die Taktik geht auf. Nach torloser erster Hälfte bringt Papke den Vizemeister der Regionalliga-Nord vor 800 Zuschauern kurz nach dem Wiederanpfiff in Führung. Die Freude bei den Vier- und Marschländern währt aber nur kurz, beinahe postwendend können die Gäste egalisieren. Der Traum vom Aufstieg droht zu platzen.

Ecke direkt verwandelt

Dann aber legt sich der zum zweiten Durchgang eingewechselte Torben Meyer den Ball zum Eckstoß bereit und zirkelt die Kugel mit ein wenig Unterstützung des Windes direkt ins lange Eck – das 2:1. Riesenjubel beim SCVM, der sich durch den Geniestreich des Jokers in die Verlängerung rettet. Dort setzt sich der Nerven-Krimi unvermindert fort. Jena, das mit dem späteren Bundesligaprofi Nils Petersen antrat, drängt mit Vehemenz und viel fußballerischer Klasse (Beyer: „Sie waren technisch überlegen und auch besser ausgebildet“) auf den Ausgleich. „Wir hatten diverse Glücksmomente“, sagt der Erfolgscoach der legendären SCVM-Junioren: „Ich habe noch fast jede Szene des Spiels im Gedächtnis.“

Seine Mannschaft rettet sich ins Elfmeterschießen. Dort verfehlt gleich der erste Schütze Jenas das Ziel. Kann der krasse Außenseiter diesen Vorteil für sich nutzen? Er kann. Sebastian Clausen, Papke, Meyer und Richter treffen vom Punkt. Beim Stand von 4:3 für den SCVM liegt es an Hendrik Helmke, den SCVM in den siebten Fußball-Himmel zu schießen – in die Bundesliga.

Grenzenloser Jubel

Der Deutsch-Brasilianer, der später eine ebenso bemerkenswerte wie außergewöhnliche Profikarriere mit Stationen in Finnland, Malaysia, Norwegen, dem Iran und in Ägypten haben wird, ist nach dem Abgang der beiden Ausnahme-Talente Martin Harnik und Max Kruse in der Winterpause zu Werder Bremen im Laufe der Rückrunde zu einem absoluten Leistungsträger gereift. Und der Mittelfeldmann scheint Nerven wie Drahtseile zu haben. Äußerlich völlig unbeeindruckt schreitet Helmke zum Punkt, läuft an und verwandelt sicher zum 5:3-Endstand.

Grenzenloser Jubel, Ekstase, Freudentränen: Nahezu ganz Fünfhausen – mit Ausnahme der niedergeschlagenen Jenaer – scheint sich in diesen Momenten in den Armen zu liegen. Nur Beyer bleibt dem überschwänglich feiernden Menschenknäuel zunächst fern – unfreiwillig. „Ich war damals an der Achillessehne verletzt und habe 20 Sekunden gebraucht, bis ich bei den Jungs war“, erzählt der 57-Jährige von den Augenblicken nach „dem Spiel meines Lebens“. Eine kleine Randnotiz, die zur Geschichte dieses völlig verrückten Tags glänzend passt.

„Sich durch eine direkt verwandelte Ecke in die Verlängerung zu retten und dann im Elfmeterschießen zu gewinnen: Besser hätte diese Story nicht geschrieben werden können“, sagt Verteidiger Chris Flick. „Es hat den unfassbaren Teamgeist unserer damaligen Mannschaft gezeigt. Ein Erlebnis, von dem wir Jungs noch heute sprechen und was uns extrem zusammen geschweißt hat“, ergänzt Papke.

Pokalsieg zwei Tage später

Das letzte Kapitel in der Geschichte des „Goldenen Jahrgangs“ des SCVM ist damit aber noch nicht geschrieben. Nur zwei Tage nach dem Aufstieg steht für die Beyer-Schützlinge („Ich habe sie fast alle sechs bis zwölf Jahre lang trainiert, es war schon eine besondere Beziehung“) das Pokalfinale gegen den HSV an. Erneut sind die „Red Devils“ krasser Außenseiter. Wieder siegen sie im Elfmeterschießen – diesmal mit 4:3. Nach regulärer Spielzeit und Verlängerung hatte es 0:0 gestanden. „Das war der Abschluss einer wundervollen Jugendzeit. Wir waren Freunde, nicht nur Mannschaftskameraden – eine wunderbare Gemeinschaft“, schwärmt Richter, der den letzten Elfmeter gegen den HSV verwandelte. „Was Schöneres kann man sich als Dorfverein nicht vorstellen“, sagt der frühere Stürmer über die Triumphe der Vier- und Marschländer A-Junioren.

Nur Julian Sander bleibt

Mit Ausnahme von Julian Sander müssen nach dem Double alle Spieler des Erfolgskaders aus Altersgründen in den Herrenbereich wechseln. Der Kern der Mannschaft rückt in das Landesliga-Team des SCVM auf, das fortan von ihrem Ziehvater Beyer gecoacht wird. Aber nach nicht einmal einer Serie wirft der Trainer hin.

Hernach brechen auch seine langjährigen Schützlinge nach und nach ihre Zelte in Fünfhausen ab. Der Kontakt untereinander aber besteht bis heute. „Wir haben eine WhatsApp-Gruppe, in der wir immer noch Blödsinn sabbeln“, berichtet Richter. Der Verbleib des Spielballs aus dem historischen Duell mit Carl Zeiss Jena wurde darin bis dato nicht thematisiert. Das aber, so fürchtet dessen aktueller Besitzer, könnte sich nach diesem Bericht ändern. Richter: „Hoffentlich will ‚Paddy‘ den Ball jetzt nicht zurückhaben.“