Allermöhe. Allermöhe. Weil sie einen Startplatz bei einem Rennen gewannen, gründete sich die Drachenboot-Abteilung des SVNA. Jetzt wird sie zehn Jahre alt.

Sonnenhungrige drängen sich an diesem lauen Sommerabend auf den Boots­stegen des Wassersportzen­trums Allermöhe. Zwei Jungs werfen Frisbee auf der Wiese, ein paar Meter weiter sitzt ein Mann mit nacktem Oberkörper und spielt Gitarre nur für sich selbst. Die meisten sind spontan hier, haben sich kurzerhand bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Zwei Männer und eine Frau erklettern einen Uferbaum, an dem schon seit Urzeiten ein Seil hängt, und schwingen sich nun wagemutig hinaus auf die Dove-Elbe, bevor sie mit einem großen Platschen in den kühlen Fluten versinken.

Etwa zehn Gehminuten vom Start- und Zielbereich
aus entlang der Regattastrecke befinden sich die „Hobbit-Höhlen von Allermöhe“, wie sie in Paddlerkreisen genannt werden. Hier ist die Drachenboot-Abteilung des SV Nettelnburg/Allermöhe zu Hause, die in diesem Sommer ihr zehnjähriges Bestehen feiert. „Wir haben die Höhlen völlig marode von der DLRG übernommen und in Eigenleistung hergerichtet“, erzählt Heiner Ziebelmann stolz. Der 1. Vorsitzende des SVNA ist gleichzeitig auch der Drachenboot-Abteilungsleiter.

Wie ein „Herr-der-Ringe“-Set

Vier solcher Höhlen gibt es. Die größte dient als Bootshaus, die drei anderen als Aufenthaltsraum, Geräteschuppen und Sanitärbereich. Das Ganze wirkt tatsächlich wie ein „Herr-der-Ringe“-Set, und man erwartet förmlich, jeden Augenblick Bilbo, Frodo, Merry, Pippin und Sam um die Ecke kommen zu sehen.

Stattdessen kommt Domenik und reckt strahlend sein abgeknicktes Paddel in die Höhe. Aufgrund einer Behinderung kann er seinen rechten Arm nicht heben. Die normale Paddelhaltung, bei der die linke Hand das Blatt unten am Schaft durchs Wasser zieht und die rechte Hand oben am Knauf für Stabilität sorgt, kommt für ihn nicht in Frage. Also haben sie ihm ein Paddel konstruiert, das in der Mitte abgeknickt ist. Nun kann er es vor dem Bauch entlangführen, ohne den rechten Arm heben zu müssen.

Weil sie ihren Aktiven wie Domenik mit solchen, an den täglichen Bedürfnissen ausgerichteten Lösungen auf unprätentiöse Art eine sportliche Heimat geben, genießen die knapp 50 Nettelnburger Drachenboot-Sportler Sympathien in ganz Hamburg – und darüber hinaus. Zwei Teams sind es: das Sportteam, die SVNAquaglider, und das Inklusionsteam, die Drachenjäger, wo Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam im Boot sitzen und miteinander Sport treiben. 2013 gab es dafür den Werner-Otto-Preis der Alexander Otto Sport­stiftung, 2014 den „Großen Stern des Sports in Silber“
vom Deutschen Olympischen Sportbund.

Was den Drachenjägern aber noch viel wichtiger ist: Alljährlich lädt sie Tennis-Legend Michael Stich zu seinem Benefizrennen ein. „Er nennt sie immer ,Mein Lieblingsteam’“, schmunzelt Zwiebelmann. So können sich die Drachenjäger auch mal mit anderen Booten messen. Denn inklusive Paddel-Teams gibt es sonst in Deutschland kaum. Ab und zu machen Aquaglider und Drachenjäger daher gemeinsame Sache. So wie am heutigen Sonnabend, wenn sie mit einem gemischten Team bei einer Regatta in Plön an den Start gehen. Doch das ist stets ein Wandeln auf einem schmalen Grat, ist sich Zwiebelmann bewusst: „Nicht allen Mitgliedern gefällt es, Rennen gemeinsam mit behinderten Menschen zu fahren.“

Die Trommelei ist nur Show

Doch der alltägliche Umgang miteinander ist beim SVNA seit Jahren Routine. „Was ich als Trainer lernen musste, ist, dass man keine Rücksicht nehmen darf“, erläutert Drachenboot-Coach Nico Blume, „Behinderte wollen im Sport genauso motiviert und gefordert werden wie Normalos.“ Für den gemeinsamen Auftritt soll daher an diesem Abend trainiert werden. Die Paddler schieben eines der beiden Vereinsboote, die „Tschüß“, aus der Hobbit-Höhle und lassen sie neben den drei Seilschwingern ins Wasser klatschen. Es ist das ältere Boot, das neuere heißt „Moin“. 12,49 Meter misst so ein Ungetüm, bietet Platz für 20 Aktive und wiegt 250 Kilogramm. Bewegt wird es auf einem Rollwagen, den die Mitglieder in Eigenleistung gezimmert haben.

Wenig später sind sie auf der Dove-Elbe unterwegs und tauchen im Rhythmus der dumpfen Trommelschläge ihre Paddel ins Wasser. Glauben zumindest die Laien. „Alles nur Show!“, verrät der Paddler Maik Janowski grinsend, der seit über zehn Jahren in diesem Sport aktiv ist. „Die Trommel ist nur ein historisches Überbleibsel ebenso wie die Drachenköpfe an der Bootsspitze“, führt er aus, „während eines Rennens blendet man das vollkommen aus.“ Stattdessen orientieren sich die Aktiven an den beiden Schlagleuten vorn im Boot.

Drachenboote stammen aus China, wo es sie schon seit weit über 2000 Jahren gibt. Der Legende nach ist der Sport am Fluss Miluo in der Provinz Hunan entstanden, wo die Bewohner des Ufers im Jahr 278 vor Christus in ihre Boote sprangen, um den Dichter Qu Yuan (348-278 v. Chr.) vor dem Ertrinken zu retten, was ihnen aber nicht gelang. In den 1970er-Jahren richtete Hongkong ein Drachenboot-Festival aus und belebte so die Tradition wieder. Heute wird der Sport in mehr als 40 Ländern betrieben, seit den 1990er-Jahren auch in Deutschland.

Sommerfest zum Jubiläum

Vor zehn Jahren bewarb sich der SVNA auf einen Artikel in unserer Zeitung hin um einen Startplatz beim Drachenboot-Rennen um den Taiwan-Cup. Daraus entstanden die Aqua­glider, zu denen heute rund
30 Aktive gehören und die Regatten in Venedig, Wien und auf dem Obersee in den Alpen bestritten haben. 2012 kamen die Drachenjäger mit 20 Aktiven hinzu. „Wir würden uns noch mehr Sportler wünschen“, sagt Zwiebelmann.

Den runden Geburtstag will die Abteilung am 7. September mit einem Sommerfest begehen, bei dem der Musiker Siggi Björns aufspielt. Interessierte können ab 16 Uhr die Hobbit-Höhlen am Allermöher Deich erkunden und in einem Drachenboot erfahren, wie es ist, im Gleichklang der Bewegung über das Wasser
zu gleiten. „Das Plätschern, wenn sich unter dem Boot die Bugwelle bildet“, schwärmt Zwiebelmann, „das ist ein ganz besonderer Moment.“