Bergedorf. Zweieinhalb Minuten. Mehr bleibt den Cheerleaderinnen in einer Kür nicht, um alles zu zeigen, was sie können.
Sporttaschen, überall Sporttaschen. In den Umkleideräumen, auf den Fluren, in den Treppenhäusern. Der gesamte Backstage-Bereich in der altehrwürdigen Alsterdorfer Sporthalle ist übersät mit Sporttaschen. Die German All Level Championships im Cheerleading haben sich buchstäblich breit gemacht. Knapp 2000 Mädchen aus 112 Teams zeigen bei diesem ersten Saisonhöhepunkt ihr Können. Sie alle haben ihre Fans mitgebracht und feuern sich auch gegenseitig enthusiastisch an. So ist die abgedunkelte Halle sieben Stunden lang pausenlos von Jubelstürmen erfüllt.
„Cheerleading ist Leistungssport“
„Viele glauben, Cheerleading hat nur etwas mit Puschelschwingen zu tun. Dabei ist es ein richtiger Leistungssport“, kennt Nele Jacobsen die gängigen Vorurteile. Im vergangenen Mai wurde die 22-Jährige mit dem deutschen Nationalteam in Orlando (Florida) Weltmeisterin. Bei den „All Levels“ ist sie als Trainerin der „HSC Superstars“ da, dem Nachwuchsteam der TSG Bergedorf. Die bis elf Jahre alten Mädchen trainieren zwei- bis dreimal pro Woche, um ihre Choreographie und die Hebefiguren richtig hinzubekommen.
Jede Bewegung muss sitzen
Zwei Minuten und 30 Sekunden dauert eine Kür. 150 Sekunden, in denen jeder Schritt, jede Handbewegung stimmen muss. Die Anspannung ist daher schon lange vor dem Auftritt zu spüren. Bei einer Veranstaltung dieser Größenordnung ist alles minutiös durchgetaktet, damit es bei Hunderten von Mädchen kein Chaos gibt. So reißt der Strom der Sporttaschen-Trägerinnen über Stunden nicht ab. Gerade versammeln sich die Junior Angels, das Cheerleading-Team der Footballer der Hamburg Blue Devils, vor der Damentoilette im Erdgeschoss und lauschen dem Kommando ihrer Trainerin: „So, Mädels, letzte Chance, aufs Klo zu gehen!“
Schminken in einem Meer aus Sporttaschen
Wer dann im Meer der Taschen in irgendeiner Ecke des Flurs ein gemütliches Plätzchen gefunden hat, schminkt noch einmal nach oder bändigt die Haare mit dem Lockenstab. „Ohne Spiegel läuft nichts. Manche toupieren sich auch aufwendig die Haare“, schildert Jacobsen. Allzu etepete dürfen Cheerleaderinnen beim Umziehen nicht sein. Die Türen zu den Umkleidekabinen stehen sperrangelweit offen. Das wäre bei dem permanenten Strom an Mädchen, die entweder hinein oder hinaus wollen, auch nicht anders möglich. Eine Tür weiter ist der Aufwärmbereich, der aus einer Hartbodenbahn und einem Springboden besteht. Hier ist schon das Geschrei des Publikums zu hören, denn die Aufwärmzone ist nur durch einen schwarzen Vorhang von der Bühne abgetrennt. „Jedes Team muss minutengenau zum Aufwärmen erscheinen und hat dann exakt sechs Minuten Zeit auf dem Hartboden und vier Minuten auf dem Springboden. Sobald die Mädchen die Fläche betreten, beginnt eine Uhr herunterzulaufen“, schildert Jacobsen.
In sechs Jahren zur Weltmeisterin
Cheerleaderinnen lernen also frühzeitig nicht nur Körperbeherrschung, sondern auch Disziplin. Anfängergruppen gibt es beim HSC – das steht für „Hamburg Supreme Cheer“ – schon ab fünf Jahren. Nele Jacobsen ist ein untypischer Fall. „Ich bin erst mit 15 Jahren zu diesem Sport gekommen“, erzählt die angehende Sport- und Fitnesskauffrau, „ich wünschte, meine Eltern hätten mich schon früher hingeschickt.“ Als Turnerin brachte sie aber ein hohes Maß an Körperbeherrschung mit. Das machte sie zur perfekten Besetzung für die Position des „Flyers“. Das sind die jungen Damen, die spektakulär durch die Luft geworfen werden. Sechs Level von Cheerleading-Teams gibt es. Die Jüngsten, „PeeWees“ genannt, sind in der Regel Level-1-Teams. Die „HSC Superstars“ hingegen beherrschen schon Hebungen und einfache Würfe, was sie zu einem Level-2-Team macht. Ihre Trainerin Nele Jacobsen ist mit ihrem eigenen Team gerade von Level 5 in Level 6 aufgestiegen, wo halsbrecherische Salti in der Luft erlaubt sind. „Wir nennen uns daher jetzt ,Sassy6’. Das soll sexy klingen und die ,6’ betonen.“
Die Musik kommt direkt aus den USA
Bei der Namensfindung ist dem Ideenreichtum ohnehin keine Grenze gesetzt. So ist bei den Wettkämpfen in Hamburg allerlei Damenhaftes (Divas, Queens, Angels, Princesses), Tierisches (Scorpions, Dolphins, Panthers, Sharks), Glamouröses (Skylights Sensation, Fantastics, Rising Sensation, Golden Stardust) und Wildes (Tsunamis, Tornados, Black Pirates) anzutreffen. Der Hang zur englischen Sprache hat einen guten Grund: „Ihre Musik lassen die Teams von Musikproduzenten in den USA schneiden“, erläutert Jacobsen, „die Grundlage sind die Counts, also das Zählen. Jedes Stück ist in 44 bis 50 Achter-Counts eingeteilt. Diese schicken wir hin und erhalten im Gegenzug das fertige Musikstück, bei dem in der Regel auch der Name des Teams eingebaut wird.“ 500 bis 1000 Dollar Minimum kostet dieser Service aus dem Mutterland des Cheerleading-Sports.
Vier Plätze auf dem Treppchen geholt
Das alles dient dazu, in den magischen zweieinhalb Minuten unter dem Gejohle des Publikums Eindruck bei den Kampfrichtern zu schinden. Den „HSC Superstars“ gelingt das sehr gut. Sie werden Zweite in der Level-2-Konkurrenz der Jüngsten, nur um eine Winzigkeit geschlagen von den Scorpinis aus Berlin. Die etwas älteren „HSC Flames“ können ihre Level-5-Konkurrenz sogar gewinnen. Weitere zweite Plätze gibt es bei den Erwachsenen für die „HSC Fusion“ (Level 5) und die „HRC Queens“ vom SC Vier- und Marschlande (Level 3).
Wehe, wenn der „Flyer“ fällt
Pech haben hingegen die „Junior Angels“ der Hamburg Blue Devils. Bei ihrem Auftritt geht alles schief. Einmal verpassen sie es sogar, ihren Flyer zu fangen. Atemlose Stille unterbricht für einen kurzen Schock-Moment das Gekreische des Publikums. Erst im allerletzten Moment, kurz über dem Boden, greifen die „Bases“ doch noch zu, unterstützt von einem der in Schwarz gekleideten Männer, die zur Sicherheit jeden Stunt auf der Bühne begleiten. Bei allem Selbstbewusstsein: Im Notfall lässt sich Frau halt gerne mal helfen.