Hamburg. Zwei Geschwister finden beim Aufräumen die Feldpost des Opas und steigen tief in die eigene Familiengeschichte ein.
In der Pandemie packte so manchen die Aufräumwut. So auch Dörte Plautz und Silke Schering. Doch was den beiden Schwestern dabei in die Hände fiel, wurde keineswegs aussortiert, sondern weckte das Interesse an der eigenen Familiengeschichte. Ihre Mutter Elke Schering (83) hatte die Feldpost ihres Vaters Ernst-Günther Friedrichs sicher verwahrt. Es war das letzte, was ihr von ihrem Vater geblieben war. Denn er starb als Soldat im Februar 1942 in Russland. Wo genau er seine letzte Ruhestätte fand, ist der Familie bis heute nicht bekannt.
Gemeinsam mit Schwester Silke Schering und Zwillingsbruder Björn Schering las Dörte Plautz eine Vielzahl von Briefen und konnte so den Weg des Großvaters im Zweiten Weltkrieg nachverfolgen und ihn auch ein stückweit kennenlernen. „Die altdeutsche Schrift war für uns nur schwer zu entziffern, aber glücklicherweise konnte meine 90-jährige Schwiegermutter die Handschrift meines Großvaters flüssig lesen“, berichtet Dörte Plautz.
Altdeutsche Schrift aus Feldpost aus dem Zweiten Weltkrieg war nur schwer zu entziffern
Die Geschwister lasen zwischen den Zeilen immer wieder von seiner positive Energie, seiner Liebe zu Mensch und Natur, seinen schier unerschütterlichen Glauben an das Gute. Immer wieder blitzte auch sein Humor auf, aber auch sein Pflichtbewusstsein: So erinnerte er seine Ehefrau Emma Friedrichs († 2005) an die Zahlung der Steuern und wie das Gemüse in der eigenen Gärtnerei zu behandeln sei.
„Unser Großvater ist im Dezember 1904 in Ratzeburg geboren, wurde dort getauft und konfirmiert und zog nach der Gärtnerlehre nach Kirchwerder. 1929 kaufte er ein Grundstück in Fünfhausen, wagte den Schritt in die Selbstständigkeit und wurde Gemüsegärtner. 1931 heiratetet er seine Ehefrau Emma, die 103 Jahre alt wurde und sechs Enkel sowie zehn Urenkel erleben durfte. Gemeinsam bekamen sie die Töchter Antje und Elke. Antje wanderte 1957 nach Kanada aus, heiratete und bekam drei Kinder, vor fünf Jahren verstarb sie. Unsere Mutter Elke übernahm von ihrer Mutter die Poststelle am Ochsenwerder Landscheideweg 262 und betrieb diese bis zu ihrer Rente im Januar 1999“, berichtet Silke Schering.
Wo die sterblichen Überreste beerdigt sind, wissen die Familienangehörigen nicht
Die Poststelle war dem sozial eingestellten Ernst-Günther Friedrichs von der Stadt angeboten worden, da er sich zuvor ehrenamtlich angeboten hatte, jeden Abend die Gaslaternen an den Straßen zu entzünden. So sicherte er seiner Frau und auch später seiner Tochter Elke den Lebensunterhalt. Anfangs war es nur ein Brett im Türrahmen, später war die Poststelle in einem kleinen Zimmer im Neubau auf dem selben Grundstück untergebracht. Überhaupt schien Friedrichs ein sehr fortschrittlicher Mensch gewesen zu sein, dem die Gleichberechtigung der Frau wichtig war und der sich gewünscht hatte, bei den Geburten der Töchter dabei zu sein.
Wo genau die sterblichen Überreste des Großvaters beerdigt sind, wissen die Familienangehörigen noch immer nicht, haben aber versprochen, dies herauszufinden. Anhand der Briefe verfolgten sie den Weg des Großvaters und haben inzwischen durch Recherchen in Archiven und im Internet herausgefunden, dass Ernst-Günther Friedrichs letzter Einsatz der Haltebefehl an der Ostfront war, im sogenannten Kessel von Demjansk.
Kostbare Erinnerung: ein Foto des Vaters und Großvaters mit seinen Töchtern
Bei 40 Grad Kälte wurden im Februar 1942 sechs Divisionen mit etwa 95.000 Soldaten dort eingeschlossen, einer davon war Friedrichs. Bei dem Befehl, das Dorf Gar einzunehmen, fiel er – 2000 Kilometer von der Heimat entfernt. „Unser Großmutti hat es nie verwunden, dass sie ihren Mann nicht beerdigen konnte. Wir haben uns vorgenommen, an die Orte zu fahren, an denen er sein Leben einsetzen musste“, sagt Dörte Plautz.
Derzeit sei es allerdings aufgrund der Pandemie und der angespannten Lage zwischen Russland und der Ukraine schwierig, diese Reise anzutreten. Am Wochenende gedachte die Familie daher auf dem Friedhof Ochsenwerder an den in der Ferne gestorbenen Vater und Großvater Ernst-Günther Friedrichs mit einem selbst gebundenen Kranz aus den Zweigen des Lebensbaumes und Frühlingsblumen. Auf der Schleife stehen die Worte: „Vor 80 Jahren verstarb Ernst-Günther Friedrichs fern seiner Heimat. Wir holen Dich nun Heim in unsere Herzen.“ Dazwischen steht die kostbare Erinnerung der Familie: ein altes Foto des Vaters und Großvaters mit seinen Töchtern Elke und Antje.
Lebensgeschichte soll als Buch festgehalten werden
Mit bewegenden Worten und den Lebensweg des Großvaters nachzeichnend, sprach Dörte Plautz am Ehrenmal zur Erinnerung an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten. An siebter Stelle ist der Name von Ernst-Günther Friedrichs in eine der Stelen eingemeißelt. Berührt gedachte die Familie dem Mann, der ihnen nun mit der Lektüre jedes Briefes näherkommt. Das Lied „In der Fremde“ von Robert Schumann mit dem Text von Joseph Eichendorff erklang zum Ende der Feierstunde, fast zeitgleich mit dem Geläut der Kirche St. Pankratius.
Die Familie wird sich weiter mit dem Leben ihres Vorfahrens beschäftigen: Aus den Recherchen soll irgendwann ein Buch, das alle Lebensstationen von Ernst-Günther Friedrichs in Worten und Bildern und im geschichtlichen Kontext aufzeigt, entstehen.