Hamburg. Matinee mit Moderator Corny Littmann am 1. August als Live-Stream. Heute: Der Text der Zweitplatzierten vom „Künstlerkollektiv“.

Nach einem Jahr coronabedingter Zwangspause geht es jetzt wieder los: In zwölf Tagen küren wir die Hamburger Stadtschreiberin 2021. Mit einer Matinee in der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle tritt die Münchnerin Jasmin Schellong (38) am Sonntag, 1. August, ihr Amt an. Bis Ende November wird sie an verschiedenen Orten in der Stadt lesen und schreiben – auch in Bergedorf.

Corny Littmann moderiert die Amtseinführung der Stadtschreiberin, bei der es auch Poetry-Slam und interaktives Theater vom „Künstlerkollektiv“ gibt.
Corny Littmann moderiert die Amtseinführung der Stadtschreiberin, bei der es auch Poetry-Slam und interaktives Theater vom „Künstlerkollektiv“ gibt. © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Lukas Schulze

Die von Corny Littmann moderierte Matinee, zu der wegen der Corona-Vorschriften nur 40 geladene Gäste zugelassen sind, werden wir per Live-Stream auf unserer Homepage übertragen. Mit dabei sind dann auch die beiden Zweitplatzierten des Stadtschreiber-Wettbewerbs, darunter das „Künstlerkollektiv“, dessen Wettbewerbsbeitrag wir heute hier veröffentlichen. Donnerstag folgt der ebenfalls mit 500 Euro prämierte Beitrag der anderen Zweitplatzierten, bevor wir kommende Woche die Kurzgeschichte der Stadtschreiberin abdrucken.

Hamburger Stadtschreiberin: Vier-Monats-Stipendium ist mit 6000 Euro dotiert

Ihr Stipendium ist mit 6000 Euro dotiert und umfasst für die vier Monate auch eine freie Unterkunft im Künstlerhaus Vorwerkstift im Schanzenviertel. Finanziell unterstützt wird das von der Bergedorfer Zeitung präsentierte Gesamtprojekt, das gendergerecht dieses Mal „Hamburger Stadtschreiberin“ heißt, vom Hauptsponsor Hamburger Volksbank, die wie in den Jahren 2013-2019 wieder das Stipendium übernimmt. Weitere Förderer und Unterstützer sind die Alfred
Toepfer Stiftung, die Kulturbehörde, die Buchhandlung Samtleben, das Schmidt Theater, die Kunsthalle und die Kulturwerkstatt Hamburg.

Amtseinführung der Stadtschreiberin mit allen Preisträgern

Zur Amtseinführung der Stadtschreiberin werden alle Preisträger eigene Auftritte beisteuern. Natürlich liest Jasmin Schellong ihren Siegertext, es gibt Stand-up-Comedy, Live-Musik – und das „Künstlerkollektiv“ wird seine Vielseitigkeit unter Beweis stellen. Denn eigentlich ist das Quartett eine Improtheater-Truppe. Sie plant Poetry Slam und interaktives Theater.

Nach dem Auftakt in der Kunsthalle wird es bis Ende November eine ganze Reihe weiterer Veranstaltungen geben. Dazu gehören Lesungen an allen vier Schreiborten: Im August in der Kulturwerkstatt am Harburger Binnenhafen, im September im Schmidt-Theater auf der Reeperbahn und im Oktober im Bergedorfer Schloss-Restaurant. Den November über arbeitet Jasmin Schellong dann in der Kunsthalle, wo am 30. November auch ihre Verabschiedung sein wird.

Das „Künstlerkollektiv“: Eine Kurzgeschichte, vier Autoren

Hier die Kurzgeschichte „Nah am Wasser gebaut“ des „Künstlerkollektivs“, hinter dem sich ein schreibendes Quartett verbirgt: Diana Cummings, Vincent Schleuning, Jana Gäbert und Johanna Hofmann. Die vier haben sich beim Improtheater kennengelernt.

„Nah am Wasser gebaut“

WASSER

H2O ist eine durchsichtige, geschmacksneutrale Flüssigkeit und die einzige chemische Verbindung auf der Erde, die in der Natur in allen drei Aggregatzuständen vorkommt. Ein Regentropfen kann sich bis zu einer maximalen Größe von 0,2 Inches verbinden, und zwar dann, wenn es als Dampf in einer Wolke gespeichert war. Sie kondensieren und fallen mit einer Geschwindigkeit von etwa 12 mph zur Erdoberfläche herunter. Fällt der Regentropfen aus einer typischen Stratuswolke in 0,6 Meilen Höhe, benötigt er etwa drei Minuten bis zum Aufprall. Viele von den kleineren kommen allerdings meist gar nicht erst unten an, da sie zwischenzeitlich verdunsten.

Als Kinder haben sie uns erzählt, hier oben im Forest würden die dicksten Regentropfen fallen. Dicker als überall sonst auf der Welt. Ich habe sie mir als riesige magische Regentropfen vorgestellt. Vielleicht weil wir tatsächlich daran glauben, dass dieser Ort magisch ist. In unserer Welt sagen wir deshalb: Dieser Ort sei wie wie kein anderer am Wasser gebaut.

Wenn etwas nah am Wasser gebaut ist, nährt es sich aus dem purem Sein der Dinge. Aus der Essenz des Lebens. Denn was ist das Wasser anderes, als der Zauber der puren Existenz - in all seinen Formen? Wasser vergeht nicht. Wasser verändert sich nur. Immerzu. Immer wieder. Aber es bleibt in der Welt. Manchmal unerreichbar, aber existent. In allem. Vor allem in uns.

Wir sagen deshalb auch, wenn der Mensch den Regen berührt, berührt er einen Moment lang die Ewigkeit.

Es ist, als würde es an diesem rauen Ort immerzu und unnachgiebig regnen. Ich schiebe also meine Kapuze ein Stückweit in den Nacken und strecke die Hand nach dem fallenden Regen aus. Spüre das kalte Wasser der großen Tropfen und frage mich, ob dieser Ort demnach für die Ewigkeit gemacht sei?

Die Vegetation hat sich an die besonderen Begebenheiten angepasst. Schilf, Seggen und Wollgräser säumen die Böschungen, auf den Moorwiesen selbst sind überwiegend Torfmoose in Vergesellschaftung mit Binsen, Heiden und fleischfressenden Pflanzen wie der Rundblättrige Sonnentau zu finden. An einigen Stellen stehen die hoch gewachsenen Nadelbäume dicht an dicht. Meist sind es Fichten. Sie weichen der kargen Moorlandschaft, deren schwierigen Bedingungen nur noch einzeln stehende, knorrige Birken trotzen. Ihr Wuchs ist leicht verdreht, manche sind mehrstämmig und ihre Höhe gedrungen. Alle Pflanzen sind irgendwie nah am Wasser gebaut im Forest of Bowland.

Der Forest of Bowland gilt als der geographische Mittelpunkt Großbritanniens. Eine verlassene Region oben im Norden. Zwischen den Yorkshire Dales, Lancaster und dem Lake District. Durchzogen von unzähligen Quellgerinnen, die sich kaum überschaubar wie ein riesiges Aderwerk zu immer größeren Bächen und Flüssen vereinen. Ihre Biegungen und Abzweigungen sind oft unerwartet und kaum bekannt. Aktuell führen sie Hochwasser und treten bereits an der ein oder anderen Stelle etwas über die Ufer.

Der Niederschlag im langjährigen Mittel für Juni beträgt für den Forest of Bowland 3,9 Inches und wurde schon längst überschritten. Die Moorböden sind übersättigt. Der Oberflächenwasserabfluss kann nirgendwo mehr erfolgen. Überall steht das Wasser auf den Wegen und Wiesen. Wie gestaut. Dieser nahezu dauerhafte Wasserüberschuss aus Niederschlägen hält den Boden sauerstoffarm. Dadurch werden pflanzlichen Reste nicht mineralisiert, sondern als Torf abgelagert und so wächst das Moor weiterhin in die Höhe. Das Wasser entscheidet an dieser Stelle über den Boden, seine Auf- und Abbauprozesse, über seine weitere Entwicklung. Als wäre die Zukunft nicht nur nah am Wasser sondern gänzlich auf Wasser gebaut.

Meine Hand wird kalt und ich ziehe sie wieder zu mir. Es ist Juni, aber davon ist hier oben nicht viel zu spüren. Auch durch meine Schuhe und Socken ist die Feuchtigkeit längst gedrungen. Schnellen Schrittes bewege ich mich ein paar Meter weiter an einen trockeneren Standort.

Und stehe inmitten eines der unzähligen Geheimnisse des Forest:

DÜRRE

Auf einer kleinen, leicht abschüssigen Anhöhe, in einem schmalen, nicht allzu dichten Waldstück stehe ich nun inmitten eines ausgetrockneten Flussbettes. Die Quelle, die hier oben einst entsprungen sein mag, ist längst versiegt – der Legende nach schon vor ewiger Zeit. Es ist surreal. Denn unter meinen Füßen knirscht der trockene Kies. Als könne ihm selbst der immer stärker werdende Regen nichts anhaben. Ich gehe in die Knie, um mit den Händen danach zu greifen. Und um zu prüfen, was ich sehe. Denn wir sagen auch: Glaube nicht alles, was du denkst.

Doch es ist wahr. Das einstige Flussbett ist staubtrocken. Als hätte es seit Monaten keinen Niederschlag mehr an diesem Ort gegeben. Wenn ich aber hinauf zu den Baumwipfeln über mir schaue, kann ich doch immer noch all die vielen, besonders dicken Regentropfen fallen sehen? Ich höre sie auf meiner Kapuze, ich sehe sie von meinen Schultern aus die Ärmel hinablaufen. Mit aller Sinnesschärfe die ich aufbringen kann, versuche ich zu beobachten, wie die Tropfen immer schneller von meinen Ärmeln auf den Boden hinabgleiten. Doch selbst wenn sie irgendwann der Schwerkraft nachgeben wollen, sind sie in dem Moment, wenn sie meine Jacke verlassen, um tiefer hinab zu fallen, auch schon wieder verschwunden. Ich versuche mich zu konzentrieren, genauer zu schauen, den Moment zu erfassen, wenn sich die Tropfen auflösen und verschwinden, bevor sie den Boden erreichen und befeuchten. Doch es gelingt mir nicht. Schneller als ich es überhaupt begreifen kann, sind all die Tropfen auch schon wieder verschwunden. Pure Magie.

Ich frage mich oft, wie es wohl sein mag, sie nicht in der Welt zu erleben. Die Magie zu übersehen. Sie vielleicht gar nicht zu sehen, gar nicht zu spüren, gar nicht nutzen zu können. Was heißt es, die Magie vielleicht nie ganz verstehen zu können? Es gibt so vieles, das selbst wir noch nicht über sie wissen, fürchte ich.Es ärgert mich in diesem Moment umso mehr. Weil ich es verstehen will, und grabe mit der Hand noch etwas tiefer und forscher im trockenen Kies.

Geschäftig laufen zwei Personen mit dicken Gummistiefeln und Regenjacken vorbei. Auch sie untersuchen das Flussbett. Sie nehmen an unterschiedlichen Stellen Bodenproben, die in Schraubgläser gesichert und entsprechend nummeriert werden. Passend zu den verschiedenen Steckmarken, die sie im Flussbett verteilen.

Es sind noch zwei andere Personen da, sie graben mit Spaten in tiefere Schichten. Vielleicht um auf Grundwasser zu stoßen. Wieder eine andere Person geht an der etwas höher gelegenen Uferkante entlang und tunkt einen Streifen Papier in das feuchte Böschungsgras. Lackmuspapier, denke ich, denn es verfärbt sich rot – der pH-Wert liegt also unter 4,5. Natürlich, denn Hochmoore sind typischerweise nährstoffarm und bodensauer. Ich krame mit meinen feuchten und vor Kälte zittrigen Händen in meiner Jackentasche nach Notizblock und Stift, ehe ich beginne, alles irgendwie mitzuschreiben, was ich von den Wissenschaftler*innen aufschnappen kann. Als die Tinte im stärker werdenden Regen immer wieder zu verschwimmen droht, muss ich meinen Regenschirm aufspannen. Fast akrobatisch bemühe ich mich trotz des jetzt laut auf den Schirm prasselnden Regens aufzuschnappen, was gesagt wird, mitzuschreiben und entlang des Flussbettes mit ihnen Schritt zu halten.

Ich laufe eine Weile hin und her und dann immer weiter entlang des Laufs bis an den Ort, den wir Harrington Hall nennen. Hinauf zur vermeintlichen Quelle. Hinter dem lichten Waldstückchen, in dem diese versiegte Urquelle einst entsprungen ist, erkenne ich bald schon die Umrisse des altehrwürdigen Anwesens. Wir nennen es einen besonderen Ort. Der auf so vielfältige Art und Weise einst ganz nah am Wasser gebaut wurde.

Eigentlich ist es nicht gestattet, diesen Ort zu betreten. Nicht an normalen Tagen und schon gar nicht an Beliefan, zum Arbre Du mitan Ewe - also heute.Das Areal ist immer abgesperrt und wird bewacht. Nur die angehenden Wächter*innen und die Angestellten der Akademie haben das ganze Jahr über Zugang zu diesem alten magischen Ort.

Für mich gilt heute eine besondere Ausnahme. Weil heute Feiertag ist. Und ich meine Reportage über diesen besonderen Ort, über unser Beliefan und den Arbre Du mitan Ewe schreiben soll. Heute gehöre ich also zu den wenigen Privilegierten, die die Bedeutungsschwere des Ortes voll und ganz erleben und in sich aufsaugen dürfen. Meine Genehmigung trage ich wie eine eine wertvolle Auszeichnung deutlich sichtbar um den Hals. Die Blicke der Personen, die Harrington Hall heute bewachen, sind stets spürbar. Je höher ich das karge Flussbett hinauf gehe, desto mehr machen sie mich zu einem Fremdkörper. Noch fremder vielleicht als dieses verdorrte Flussbett im prasselnden Regen.

DER BAUM

Die Wissenschaftler*innen beschäftigen sich inzwischen mit dem einzigen Baum, der mit seine vielen Wurzeln noch im Flussbett gedeiht. Offenkundig ungebremst gedeiht. Ich betrachte den berühmten Baum ehrfürchtig vom Flussbett aus. Er erstrahlt in der Kargness, der ansonsten verkümmerten Vegetation des alten Ufers. Ohne Wasser kein Leben. Bis auf diesen einen Baum.

Es ist eine Platane. Auch ein Fremdkörper. Sie will so gar nicht hierher passen. Sie ist alt, der mächtige Stamm von der Zeit gezeichnet, und doch ist kein einziger toter Ast in der majestätischen Krone zu sehen. Ihre abgeblätterte Borke hat eine typische Mixtur aus hellgelben, grünlichen und grauen Bereichen hinterlassen und weist noch immer die Narben von Verletzungen längst vergangener Zeit auf. In das Flussbett hinein wachsen kräftige Wurzeln, deren oberirdische Verzweigungen an große Finger erinnern, die sich in den Sand graben wollen. Und auch wenn jegliches Nass hier fehlt, wirkt es, als giere sie auch weiterhin nach dem dem Wasser zum Leben.

Seine ungewöhnliche Wuchsform zieht mich noch ein paar Schritte dichter an den außergewöhnlichen Baum heran. Statt eines mächtigen horizontal gewachsenen Stammes gibt es zwei in sich verwachsene Haupttriebe, deren Geäst letztendlich doch ein sehr ausladendes Blätterdach formt. Die dreizahnigen, hellgrünen Blätter sprechen von einem Überfluss. An allem. Dabei gelten Hochmoore als extrem mineralsalzarme, extrem stickstoffarme Lebensräume. Der Baum ist viel zu üppig, viel zu groß, viel zu alt. Ein Fossil. Das es vermutlich schon seit mehren Millionen Jahren nicht mehr geben sollte und sich aus einer vermutlich schon seit Jahrhunderten toten Quelle speist.

Immer wieder verharre ich und verliere mich in seinem Anblick. Gefolgt von Momenten, in denen ich hastig und schnell versuche, all die Eindrücke und Gedanken panisch festzuhalten, die auf mich einprasseln, wie der unbändige Regen an diesem Ort, bevor sie so schnell verfliegen, wie sie gekommen sind.

Ich will in meinem Bericht dem Zauber der Situation gerecht werden, aber keine Worte scheinen die Kraft zu haben, all das zu erfassen, was wahre Magie wirklich ist. Egal wie sehr ich versuche sie in Worten zu formen, letztlich bleibt ein Teil von ihr immer wild und unzähmbar. Oder sollte es zumindest bleiben?

Und trotzdem graben wir nach der Quelle. Sogar jetzt gerade. Im Flussbett unter dem Baum. Als könne es nicht reichen, dass etwas bloß existiert. Nicht wenn wir es nicht verstehen, sagen wir. Aber wenn wir es erst verstehen, dann werden wir es uns auch unterwerfen wollen, nicht wahr?

Habe ich nicht Recht? Egal wie schnell und weit meine Gedanken gerade austreiben und sich in meinem Kopf verästeln, der Baum treibt seine Äste noch weiter, noch höher, noch zahlreicher. Ich springe immerzu abwechselnd hin und her zwischen dem Baum und dem Rasen in meinem Kopf. Dem Gefühl, er wolle mir etwas sagen, genau wie ich ihm und irgendwie spricht immer der Falsche im falschen Moment.

Ich atme schließlich bewusst durch. Hole tief Luft. Atme tief in den Bauch hinein ein und wieder vollständig aus. Dabei schließe ich kurz die Augen, um noch einmal neu auf alles schauen zu können: Mein Blick geht an den Wissenschaftler*innen vorbei. Hinab zum Wurzelwerk. Tief im Flussbett. Da wo einst die Urquelle entsprungen sein könnte. Auf der Suche nach Antworten schneiden sie gerade an einzelnen Stellen vorsichtig das Wurzelwerk des Baumes auf. Wagen eine Bohrkernprobe zur Bestimmung des Alters und essenzieller Informationen über anthropogene und Klimaeinflüsse. Eine Analytik der Magiedichte soll anschließen. Ich beuge mich weiter vor, versuche mehr Blicke und Informationen zu erhaschen und stelle mir selbst die Frage, was so falsch daran sein könne, einfach wissen zu wollen? Einige von uns sagen übrigens, dass Wissen eine stets versiegende Quelle sei. Wenn aber das Wissen als Quelle letztlich immer versiegt, woraus nährt sich dann dieser Baum gerade?

Eine klare Antwort bekomme ich nicht mehr von den Wissenschaftler*innen. Ich versuche noch dichter ranzugehen – fast unangenehm nah – aber plötzlich verstehe ich sie nicht mehr. Schnell nehme ich den Schirm runter, damit der Regen nicht ihre Gespräche schluckt. Aber es reicht nicht, alles was sie sagen verschwimmt plötzlich. In unzähligen Geräuschen. Viele kann ich nicht einmal zuordnen. Im Rascheln von Jacken, Regenschirmen, dem Husten, dem Laub im Wind.

Ein kurzer irritierender Moment, in dem ich tausend Dinge gleichzeitig höre. Ich schaue unweigerlich auf. Fast schon orientierungslos wirbele ich herum, wie aufgescheucht. Ich sehe Menschen. Aber da ist noch mehr, was ich wahrnehme. Ich horche noch einen Moment, noch einmal angestrengter. Ich weiß, da ist noch etwas. Irgendwo außerhalb dieses von der Realität isolierten, unwirklichen Ortes. Weiter draußen, weiter in der Ferne. Aber ich kann es nicht fassen und werde unruhig.

Erst als eine betont tiefe und andächtige Stimme am Ufer neben dem Baum, ein paar Fuß über mir, plötzlich zu sprechen beginnt, muss ich das Gefühl abrupt wieder loslassen, etwas Wichtiges dort draußen im Forest übersehen zu haben. Denn ich fahre erschrocken zusammen. Ist es tatsächlich schon so weit?

WÄCHTER*INNEN

Nach und nach werden wir von einer wachsenden Menschentraube umgeben, die sich langsam dem Baum nähert. Sie alle gehören an diesen Ort. Es sind Student*innen der nahen Akademie. Sie leben in den Gemäuern hier oben von Harrington Hall. Das Läuten der Akademieglocken, so heißt es, hören sie manchmal, immer wenn der Wind günstig steht, über den ganzen Forest hinweg bis nach Lancaster. Einige deuten es gar als Warnung.Wächter*in zaubern, so sagt die Legende, mit dem Holz der Platane. Im Glauben an eine nie erschöpfende Kraft, die sie durch ihr Wurzelholz aus der Quelle zieht, immer dann, wenn sie denn nah genug am Wasser gewachsen sei.

Während hier unten im Flussbett die letzten Messungen unternommen werden, stehen die Leute von der Akademie nun oben zusammen. Sie haben sich zum Beliefan hier versammelt. Für jeden von uns ein besonderes Fest und der Arbre Du mitan Ewe ein ganz besonderes Identität und Zusammenhalt stiftendes Ritual. Bevor es aber endlich losgeht, werden auch bei uns Reden gehalten. Auch ich verfalle ihrer Ästhetik und ihrem Pathos kurz, wenn sie über die Magie, den Baum als Sinnbild des Glaubens und ihre Ideen eines besseren Magic Britain sprechen.

Die Schultern vorgezogen, das Gesicht tief unter Regenschirmen oder Kapuzen vergraben, tapsen die jungen Menschen vorsichtig, fast angewidert, noch etwas dichter durch das nasse Gras an den Baum heran. Um besser hören zu können. Sie laufen oben auf meiner Kopfhöhe und bilden dabei ein buntes Mosaik aus schlammigen Boots, glänzenden Lederschuhen, triefenden roten Chucks, leuchtend gelben Gummistiefeln, nicht mehr ganz so weißen Trainern und glitzernden Pumps. Dem Anlass angemessen tragen sie alle mehr oder weniger ordentlich gebundene Krawatten, die unter gestärkten weißen Hemdkragen oder wild gemusterten, bunten Strickpullovern hervorblitzen.

Sie alle gehören jetzt an diesen Ort. Sie alle aber bringen auch etwas von dort draußen mit hinein. Ihre Ehrfurcht oder ihren Stolz. Die andächtige Stille ob des besonderen Moments oder eine jugendliche Unbedarftheit, die sie auch jetzt noch leise Späße machen lässt. Manche eine besondere Ernsthaftigkeit, andere ihr ausgeprägtes Pflichtgefühl. Einige kommen, damit ihnen zugehört wird, andere um zuzuhören. Was sie eint, ist der Ort. Und dieser Moment.

Es ist ein flüchtiger Moment, denn schon die ersten wenden sich wenig später ab. Es wird unruhig, sie tuscheln und mahnen sich gegenseitig zur Ruhe. Aber es bleibt dabei, irgendetwas passiert außerhalb von Harrington Hall. Auch ich verfalle irgendwann der Versuchung und horche noch einmal angespannt in den Wald hinein. Und dann höre ich es auch. Geräusche, aus dem nahen Ort. Dort wo das große Tor hinauf zur Akademie steht. Es klingt wie Megafone, wie Brüllen, ein Pfeifen, wie Menschen, die absichtlich Lärm machen, um etwas zu stören. Ich frage mich, was diese Menschen hier draußen wohl versuchen könnten zu stören?

DER ZAUBER

Jemand reißt mich mit einem zaghaften Tippen auf die Schulter aus meinen Gedanken. Die heute fließen wie in einem wilden Fluss. Schnell, also wie in Stromschnellen schnell, brechen und zerbersten sie jäh an Steinen und Felsen, werden langsam, fast still und innehaltend, um dann wieder an Tempo und Fahrt aufzunehmen. Klar und zielgerichtet, und plötzlich ganz verschlungen mit harten Wendungen. Vor allem aber mit so vielen Armen und noch kleineren Seitenarmen, dass ich fast gar nicht mehr sagen kann, wo dieser Gedankenfluss noch münden soll. Nochmal tippt jemand jetzt etwas bestimmter auf meine Schulter. Es wird Zeit, aus dem Flussbett hinaus zu klettern.

Als ich hinauf klettere, reichen mir die jungen Wächter*innen zur Hilfe die Hand und dennoch rutsche ich kurz weg. Ein schmaler Fußbreit der Kante bricht ab. Ich trete instinktiv einen Schritt vor und kann mich noch gerade so halten.

MAGISCHER MOMENT

Die meisten der jungen Wächter*innen hier oben stehen aber weiterhin unbekümmert oder auch nur sinnbildlich für diesen Tag und seine Geschichte auffällig dicht an der Kante zum versiegenden Flusslauf. Denn wir glauben, jeden Tag werde der Baum überleben, der nah am Wasser wächst und seine Wurzeln im Fluss tränkt. Denn wenn Hitze und Angst über ihn kommen, sollen seine Blätter immer noch grün sein. Damit sie ausreichend Schatten spenden, wann immer wir ihn suchen. Auch in der Rede, die sich just in diesem Moment ihrem Höhepunkt zuneigt, sind wir an eben dieser Stelle. An der sie für alle Ewigkeit behaupten, der Baum, der nah am Wasser gedeihe, werde nie aufhören Früchte zu tragen. Viel näher als bis zu dieser Kante kann heute jedenfalls keiner mehr am Wasser stehen.

Der Boden unter der Kante wirkt auf den ersten Blick sehr gewaltig. Die dunklen Torfschichten sind Jahr für Jahr aus Ablagerungen von organischer Substanz entstanden und ich kann Reste von abgestorbenen Wurzeln und anderen Pflanzenteilen ausmachen. Ihre Zersetzung ist durch den Sauerstoffmangel gehemmt, und sie wirken wie ein wassergesättigter Schwamm. Eigentlich. Doch jetzt besteht wieder Luftkontakt und die Bodenorganismen können durch die Sauerstoffzufuhr die Pflanzenreste zersetzen. Dieser Prozess zerstört das Moor. Das System kippt und alles wird instabil. Wasser bahnt sich immer einen Weg. Ein falscher Schritt und sie brechen weg oder rutschen ab. Hinab in das tote Flussbett.

Alle werden schlagartig stumm. Ein paar Handzeichen signalisieren: Es geht los. Das ist der Moment. Ich mache reflexartig einen weiteren Schritt zurück, nur um mich sofort daran zu erinnern, dass ich ja hier bin, um all das ganz vorne, in der ersten Reihe zu erleben. Für die Menschen, die jetzt nicht hier sein dürfen, aber uns und unsere Welt besser kennenlernen sollen. Es ist jetzt vollkommen still. Als würde nicht einmal die Zeit noch schlagen. Ein magischer Moment. Ohne Ton, ohne Klang. Ein sich langsam aufblähender Raum. Nicht leer, sondern aufgeladen mit Spannung, die nur noch darauf wartet, sich jetzt über uns, um uns, in uns zu entladen. Über diesen Moment sagen wir, Magie sei Musik. Manche hören und verfallen ihrer Melodie, manche spüren nur den Rhythmus. Magie kann alles sein. Sie ist immer die Möglichkeit. Entweder du erkennst ihren lieblichen Zauber und lässt dich von ihm mittragen oder du bist quasi taub für sein Wunder.

Dann höre ich ihn wieder, den Regen. Sein sanftes Prelude aus Tropfen. In den Falten meines Jackenärmels sammeln sie sich. Sie haften fast auf dem Material. Adhäsionskräfte, einfachste Physik. Ich strecke den Arm aus, um weitere Tropfen aufzufangen. Doch die Regentropfen stehen plötzlich still. Wenn Magie wirkt, steht die Natur still, denn wir skalieren mit ihr Zeit und Raum.

Und die Tropfen beginnen sich langsam von meiner Jacke zu lösen. Sie springen und wirbeln, sie springen und ziehen voran. Ganz rhythmisch. Im Viervierteltakt. Und plötzlich sind die Harmonien still. Die Melodie hält inne. Und die Tropfen stehen. Eine leere Quinte. Doch bevor die Welt neu aus Musik aufersteht, spielt eine Modulation, aus reinster Magie. Und mit den wiederkehrenden Tönen eine neue Partitur. Ihr neues Netz, gesponnen aus dem Wasser, das uns alle zusammenhält, aus dem alles gebaut ist, das alles kurz preisgibt und am Ende wieder sanft zieht in seinen Bann. Immer mehr, von überall, sie kommen her und schließen sich an. Wasser kommt zusammen. Erst tropft es, dann läuft es, in schnell anwachsenden Linien hinab ins trockene Flussbett. Getragen von einer fünften unsichtbaren Kraft.

NEUE DYNAMIK

Und die Regentropfen stehen still. Sie gleiten. Sie stehen. Sie sind still. Einen winzigen Moment. Und ein einzelner Ton steht still. Dann geht es weiter. Der Lauf der Dinge. Wieder und wieder. Ein zweiter Ton. Ein dritter, verbunden in Moll. G-Moll. Ein Ton. Ein neuer Ton. Ein kraftvoller Ton. Leicht und rhythmisch pochen neue Tropfen. Pochen und klopfen sanft, wie ein Metronom, in einem nicht enden wollenden Strom, immer weiter hinab bis ins erwachende Flussbett. Wo sich all die Töne füllen und verbinden zu einem Ganzen. Tiefe und helle Töne. Und hartnäckige Wiederholungen mischen eine neue Dramatik bei.

Und sie bewegen sich gemeinsam. Gemeinsam mit dem Wasser, als endlich die Quelle kraftvoll aufbricht und das Leben aus ihr heraus und den Flusslauf wild und unbändig hinunter, hinaus in die Welt stürzt. Jung. Frisch. Dynamisch. Immer schneller, immer weiter. Von überall her kommt das Wasser längst, denn die fünfte Kraft zieht alles zusammen, nur um für einen kurzen, kostbaren Moment alles in einem magischen Fluss fließen zu lassen. Als der Regen kommt und das Wasser steigt, als die Winde wehen und sie alle im Flussbett wild aufeinander stoßen. Schnelles, hartes Moll. Fast unheimlich. Das Wasser bahnt sich seinen Weg. Hinaus. Die reißende Strömung trifft auf die Uferkante. Die wuchtigen Fluten, die wir Tropfen auf Tropfen erschaffen haben, drohen nun das Ufer zu unterspülen, auf dem wir stehen und uns einfach mit sich fort zu reißen. Denn die Tropfen stehen nicht mehr still. Und die kontrollierte Symphonie endet in einem wilden Crescendo. Nur der Baum, er steht dort unerschütterlich, wie immer, prall in voller Blüte.

Die Kante bricht. Ein wilder Schrei. Ein rettender Sprung, erschrocken zur Seite. Nur ein einziger Misston in der Symphonie und unsere kleine magische Welt aus Tönen und Tropfen fällt in sich zusammen. Der Zauber ist gebrochen. Wasser und Blüten lösen sich auf. Als hätte es sie nie gegeben. Das Flussbett ist wieder einsam, verlassen und so staubtrocken wie zuvor. Ein einzigartiger Moment – vorbei.

Ich blinzle irritiert. An der frisch abgebrochene Kante steht eine weitere Wurzel des Baumes nun frei. Dann beginne ich hektisch zu schreiben. Wind, Regen und die sich vor Nässe wellenden Blätter meines Notizblocks ignorierend. Ich versuche, all die tiefen Gefühle zu rekapitulieren, die dieser kurze Moment in mir ausgelöst hat. Ich will sie mir bewahren und nicht mehr loslassen. Ich will ihnen auch einen Ton geben, eine Form. Kunst und Magie haben so viel gemein, denke ich und schreibe und schreibe, fast besessen von diesem viel zu kurzen Moment.

DER REGEN

Während ich Seiten um Seiten im vollkommenen Fluss verfasse, wird es immer ruhiger und leerer um mich herum. Die meisten der jungen Wächter*innen sind - enttäuscht ob der Kürze des Moments und seines jähen Endes - längst wieder zurück in die schützenden Hallen ihrer Akademie geschlendert. Die Feierstunde gilt als beendet. Auch die Wissenschaftler*innen haben längst abgebaut. Zurück bleiben das Flussbett, der Baum und ich. Und der ewige Regen natürlich.

Ich blättere in meinem Notizbuch herum. Wir sind alle am Wasser gebaut, denn alles wird von Wasser zusammengehalten. Baue nah am Wasser und du wirst nie Durst leiden. Aber was ist mit baue nicht zu nah am Wasser, sonst reißt dich der Strom noch fort...Ich kann auf dem aufgeweichten Papier schon längst nicht mehr alles lesen. Ich fürchte, es könnte nicht an Erkenntnis für meine Reportage reichen. Denn da draußen ist noch etwas, das ich noch immer nicht ganz erfassen kann.

Aber wenn ich hinaus in die Ferne horche, dann höre ich nichts mehr von der magischen Essenz dieses Ortes. Dann sind da nur noch die lauten und wütenden Stimmen des Protests, die aus einer ganz anderen Richtung hinüber schallen. Ein paar Mal versuche ich den Lärm geradezu von mir abzuschütteln, aber es will nicht gelingen. Stattdessen klingt er immer lauter und aggressiver zu mir hinüber. Er wird geradezu bedrohlich. Als würde er sich direkt gegen mich richten. Ich ertappe mich dabei, mich immer wieder furchtsam umzusehen. Dabei weiß ich, dass diese Menschen niemals hier hinauf kommen werden. Dass sie es niemals dürfen werden.

In diesem Moment bricht sich ganz ungeahnt die Abendsonne ihren Weg durch die dunklen Wolken. Und der Schatten des mächtigen Wyrtrume Beliefan wird immer dunkler und größer, bis er mich zu seinen Füßen fast vollständig verschlingt. Zu guter Letzt also sehe ich den Baum noch einmal in einem anderen Licht.

Es dauert einen Moment, aber dann zücke ich mein nahezu aufgeweichtes Notizbuch und formuliere einen allerletzten Satz: Für den Rest der Welt lässt der mächtige Wyrtrume Beliefan nichts mehr übrig als ein karges ausgehöhltes Kiesbett ohne Leben. Nicht wahr?

„Es ist vorbei”, ruft schließlich eine Person auffordernd zu mir hinüber und winkt. Sie wollen auch mich endlich vom Gelände führen. Wie den Propheten von seinem Berg, denke ich mit einem sanften aber müden Lächeln. Denn wenn wir wissen, dass das Wasser unsere Welt zusammenhält, und wir sagen, dass der Glaube unsere Realität erschafft, dann sind das Wasser und der Glaube rein mathematisch das Gleiche, nicht wahr?

Nur, was ist dann eigentlich unsere Magie? Und viel entscheidender, wozu wollen wir sie wirklich?