Curslack. Zu starke Konkurrenz, zu viel Bürokratie: Landhaus-Apothekerin Sybille Dilling (69) geht in den Ruhestand – nicht ganz freiwillig.
72 Jahre lang haben Curslacker und Neuengammer in der Landhaus-Apotheke ihre Salben, Tabletten und anderen Medikamente erworben. Nun hat die Apotheke am Curslacker Deich 171 ihre Türen für immer geschlossen. Betreiberin Sybille Dilling hat sich in den wohlverdienten Ruhestand begeben – nicht ganz freiwillig. Die 69-Jährige hätte ihre Apotheke gern noch weitere Jahre betrieben. Doch ihr Kundenstamm ist in den vergangenen zweieinhalb Jahren extrem zusammengeschmolzen.
Im Juli 2017 wurde am Heinrich-Stubbe-Weg, nur wenige Hundert Meter entfernt, eine weitere Apotheke eröffnet. Viele Kunden versorgen sich seitdem dort, weil der Weg etwa für sie kürzer ist. „Ich hatte zum Schluss mehr als 2000 Stammkunden“, sagt Sybille Dilling: „Aber das reicht nicht zum Überleben.“ Heutzutage brauche eine Apotheke „einen Einzugsbereich von 10.000 Köpfen“. Vor 35 Jahren, als sie die Landhaus-Apotheke übernahm, habe davon ein Drittel ausgereicht.
Landhaus-Apotheke in Vierlanden schließt nach 72 Jahren
„Damals galt aber auch: Je teurer ein Medikament, desto mehr verdient der Apotheker daran. Die Krankenkassen mussten uns wesentlich mehr bezahlen.“ Mit immer neuen Anordnungen mache es der Gesetzgeber den Apothekern zunehmend schwerer, schon lange sei die Preisgestaltung bei verschreibungspflichtigen Medikamenten „stark nach unten reglementiert“, klagt sie. Die Ausgaben der Apotheker seien dagegen gestiegen. „Mehr als die Hälfte des Gesamtetats wird für Personalgehälter und Sozialabgaben benötigt – und die Angestellten haben keine schlechten Gehälter.“
Auch Corona beschere geringere Umsätze: „Die Leute gehen weniger zum Arzt und damit auch weniger zu uns“, sagt Sybille Dilling. Starke Konkurrenz bereite den Apothekern zudem der Versand von Medikamenten übers Internet. „Die Landschaft wird sich noch stärker verändern, denn Amazon steht bereits in den Startlöchern, um in Deutschland auch diesen Markt zu erobern.“ Sybille Dilling kritisiert, dass der Gesetzgeber dies zulasse: „Wir bekommen keine Hilfe.“ Die Folge der harten Bedingungen für ihren Berufsstand seien nicht zu übersehen. Fast täglich schließe in Deutschland eine Apotheke. Neueröffnungen seien selten.
Zahl der Apotheken sinkt bundesweit auf unter 19.000
Die Zahl der Apotheken ist im vergangenen Jahr laut „Deutsche Apotheker Zeitung“ auf weniger als 19.000 gesunken. Im Jahr 2000 gab es laut der Fachzeitschrift mit 21.592 die meisten Apotheken. Auf der Datenplattform Statista.com ist aufgeführt, dass die Zahl der Apotheken zwischen 2008 und 2018 um mehr als 2000 auf 19.075 gesunken ist. „Die Fachleute gehen davon aus, dass innerhalb weniger Jahre ein weiteres Viertel wegbrechen wird“, sagt Sybille Dilling.
Sie räumt derzeit gemeinsam mit einer Mitarbeiterin ihre Apotheke leer. Die Medikamente würden zurück an den Großhandel gehen – „oder in den Müll“. Danach werde das Haus umgebaut. Aus der Apotheke sollen Mietwohnungen werden. Um einen Nachfolger hat sich die 69-Jährige wegen der schlechten wirtschaftlichen Aussichten gar nicht erst bemüht.
Umbauten nötig: Landhaus-Apotheke genoss lediglich Bestandsschutz
Denn neben der Corona-Krise, starker Konkurrenz und geringeren Gewinnmargen an den Medikamenten seien auch gesetzliche Vorgaben an Apotheken immer wieder verschärft worden: „Beispielsweise habe ich das Labor zur Prüfung und Herstellung von Arzneimitteln im Keller. Heutzutage muss es aber ebenerdig sein.“ Für vertrauliche Beratungsgespräche mit Kunden müsse zudem ein separater Raum zur Verfügung stehen. „Das war bei uns das Notdienstzimmer.“ Die Landhaus-Apotheke hat lediglich Bestandsschutz genossen, ein Nachfolger müsste aufwendig umbauen. „Viele alte Apotheken sind von solchen Vorgaben betroffen“, sagt Sybille Dilling. Vor allem in den vergangenen zehn, 15 Jahren habe es „Unmengen solcher Anordnungen“ gegeben.
Zum Jahresende beschäftigte die Apothekerin noch fünf Mitarbeiter. „Bis vor zweieinhalb Jahren waren es mindestens doppelt so viele.“ Zwei würden nun in Rente gehen, die drei anderen, jüngeren seien auf Jobsuche. Einige Mitarbeiterinnen hätten zehn, 20 Jahre in der Landhaus-Apotheke gearbeitet, eine wurde sogar vor 35 Jahren von den Vorgängern übernommen.
Wahl-Curslackerin fand Vierlande „von Anfang an reizvoll“
Sybille Dilling bezeichnet sich lachend als „Apotheken-Dino“, war exakt 50 Jahre im Beruf. Gleich nach dem Abitur arbeitete sie in Berlin zwei Jahre in einer Apotheke, um das erste Staatsexamen (damals noch Vorexamen) machen zu können. In den 1970er-Jahren studierte sie in Bonn Pharmazie, erhielt ihre Approbation (staatliche Zulassung). 1980 zog die in Vorpommern geborene und in Berlin aufgewachsene Apothekerin nach Hamburg. Nach fünf Jahren als Freiberuflerin, die bundesweit Apotheker in deren Urlaub vertrat, machte sie sich in Curslack selbstständig. „Die Vierlande fand ich von Anfang an reizvoll. Mittlerweile verbringe ich schon mehr als mein halbes Leben hier.“
Die Landhaus-Apotheke übernahm sie vom Ehepaar Seidel. „Vor ihnen gab es noch einen weiteren Betreiber“, weiß Sybille Dilling. „Er war der erste Apotheker in dem Haus, das die Stadt 1948 eigens zu diesem Zwecke bauen ließ.“ Die Mutter zweier erwachsener Kinder lebt und arbeitet seit 1985 mit ihrem Mann am Curslacker Deich 171.
Bei der Verabschiedung von Stammkunden flossen Tränen
Dilling und ihre Berufskollegen würden sich als Dienstleister verstehen, die ihre Patienten nicht nur beraten, sondern oft regelrecht coachen würden, betont die Neu-Rentnerin. „Viele ältere Stammkunden hatten viele Fragen. Sie wollten wissen, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen sollen, warum und wie sie bestimmte Medikamente einnehmen müssen, ob diese wirklich sinnvoll seien.“ Sie habe in den vergangenen Wochen „mehr als eine Träne gesehen“, als sie die Kunden über die Schließung informiert hatte. „Nicht wenige Kunden habe ich vor 35 Jahren übernommen. Ich danke allen für ihre Treue.“
In ihrer neu gewonnenen Freizeit möchte Sybille Dilling wieder in einem Chor singen. „Dazu hatte ich als Apothekerin leider keine Zeit.“ Denn die Seniorin kann sehr gut singen. „Parallel zu meinem Pharmazie-Studium habe ich in Köln drei Jahre lang Operngesang studiert.“