Bergedorf. Dietrich Becker verschaffte zigtausend Bergedorfern die passende Lektüre, auch im Knast. Jetzt schlägt er ein neues Kapitel auf.
An so einem Tag wie heute, immer dienstags, kommen 700 bis 800 Menschen in die öffentliche Bücherhalle an der Alten Holstenstraße: „Aktuelle Bestseller sind immer sofort vergriffen“, weiß Dietrich Becker. Ab sofort aber schmökert der 65-Jährige seine Krimis lieber genüsslich an der Ostseeküste. Dort erwartet ein Wohnwagen den frisch erschienenen Rentner. Nach 35 Jahren zwischen Buchdeckeln – vom Schlagwortkatalog bis zum modernen Lese-Chip – geht der Leiter der Bücherhalle in Rente.
Vom Friedhofsgärtner zum Diplom-Bibliothekar
Aufgewachsen in Bergedorf, hat er zunächst einmal ganz was anderes gelernt: Groß- und Außenhandelskaufmann bei der Coop. Aber die Arbeit beim „Konsumverein“ war ihm zu dröge. Es folgte tatsächlich auf dem Gojenberg eine Ausbildung zum Friedhofsgärtner. „Und danach habe ich noch Schnaps und Konservendosen im S-Bahn-Kiosk an der Reeperbahn verkauft“, sagt er grinsend. Danach aber wurde es ernst: Nach dreieinhalb Jahren schloss er das Studium als Diplom-Bibliothekar ab und blieb seither den Hamburger Öffentlichen Bücherhallen (HÖB) treu.
Stühlestapeln mit Rüdiger Nehberg
Seine erste Festanstellung bekam er 1987 in der Bücherhalle an der Lohbrügger Landstraße 95. Damals gab es nicht nur die Leser, die sämtliche Ostfront-Geschichten von Willi Heinrich kannten sowie die „Romanfrauen“, die Utta Danella verschlangen, sondern auch nach „diesen Stellen“ fragten: „Das Wort Erotik-Literatur gab es ja noch nicht“, sagt Dietrich Becker, der lieber für andere Genres Lesungen organisierte: Der Ohnsorg-Schauspieler Jesper Vogt etwa gab einen niederdeutschen Abend, Kinder-Star Rolf Zuckowski konnte stundenlang Autogramme geben, und Umweltaktivist Rüdiger Nehberg half sogar dabei, die Stühle wieder abzubauen.
Vier Jahre lang leitetet Becker die Lohbrügger Bücherhalle – zu Zeiten, als es noch Katalogkarten gab. „Wenn wir wissen wollten, ob es einen bestimmten Titel gibt, mussten wir beim Zentralkatalog anrufen, der war gleich beim Punkerbrunnen am Gertrudenkirchhof. Und die drei Damen dort hatten wirklich jeden Titel im Kopf, konnten sagen, dass eine letzte Ausgabe in „E“ steht, also in Eppendorf.“
Betriebsrat gegen EDV
Aber genau diese Damen sollten nicht arbeitslos werden, als „Ende der 80er gegen den Widerstand des Betriebsrates die EDV eingeführt wurde“. Und so konnte man fortan am PC sehen, dass der Titel zwar vorhanden war, aber nicht wo – dazu brauchte es noch die betagten Kolleginnen. „Die PC-Umstellung war für viele von uns eine Tragödie. Auch ich habe in Lohbrügge noch heimlich den Schlagwortkatalog weitergeführt“, erzählt der Diplom-Bibliothekar.
Bildbände für den Säuremörder
Die nächsten zwölf Jahre arbeitete er in der Fachstelle, die Bibliotheken in Schulen betreute, Kitas und Altenheime (samt Großdruck-Bestand) – und die Gefängnisse der Stadt. „Dieser widerliche Säuremörder von Rahlstedt war mein Kalfaktor in der Knastbibliothek. Diese Hilfskraft kannte natürlich sämtliche Kiezgrößen, die oft Bildbände bestellten oder aber auch Rechtsliteratur.“ Und dass der eine Typ, der immer etwas über Schwimmkurse für Kinder bestellte, ein Triebtäter war, das fand er erst später heraus: „Dann hat er solche Bücher natürlich nicht mehr von mir bekommen“. Sämtliche Romantik unterdessen ging ins Frauengefängnis, Comics wurden auf der Elbinsel Hahnöfersand bestellt, wo die straffällige Jugend einsaß.
Neue Bücherhalle wird „kultureller Leuchtturm“
Im Jahr 2004 kam der Literaturfan dann zur Bücherhalle Bergedorf, die am Kupferhof auch das 100-jährige Stiftungsjubiläum feierte. Gut 40.000 Medien waren ausleihbar – für Becker eine „kulturelle Aufgabe“, denn Jane Austen, Goethe oder auch Pipi Langstrumpf seien nun mal unsterblich – auch nach dem Umzug an die Alte Holstenstraße im Januar 2015. „Eigentlich hätte ich gern noch die neue Bücherhalle im Körber-Haus geleitet. Aber statt 2017 wird dieser kulturelle Leuchtturm im Hamburger Osten ja leider erst im Sommer 2022 eröffnet“, sagt Dietrich Becker.
So nimmt er nun also die Corona-Zeit zum Absprung, denn: „Jetzt fällt ja auch die Arbeit mit den Kindern weg, die mir immer am meisten Spaß gemacht hat – obwohl die Kids heute mehr frech als selbstbewusst sind.“ Digitale Klassenzimmer und diese neumodischen Bilderbuchkinos jedoch „sind einfach nicht so mein Ding.“
+++ Eva Quade wird die neue Chefin im modernen Neubau +++
„Irgendwann übernimmst du hier den Laden“, frotzelten sie noch, als Eva Quade 2010 ihre Ausbildung begann und bei Dietrich Becker in die Lehre ging. Nun, nachdem sie noch das Studium zum Bibliotheksmanagement aufsattelte, ist es so weit: „Ich freue mich auf die neue Aufgabe und viel mehr Print-Angebote. Denn CDs und Filme werden ja weniger ausgeliehen, seitdem es Streaming-Angebote gibt.“ Jetzt in Lohbrügge sind es (samt der E-Books) 27.000 Medien, im neuen Körber-Haus werde ab Sommer 2022 Platz für sogar 45.000 Medien sein.
Dazu wird es eine 500 Quadratmeter große Publikumsfläche geben, freut sich Eva Quade auf viele Veranstaltungen – auch auf Plattdeutsch, „denn das gehört hier kulturell dazu“. Zahlreiche Lesungen plant sie im 50 Quadratmeter großen Veranstaltungsraum und möchte dabei „einen Fokus auf Kinder und Jugendliche legen“. Denn die 30-Jährige hat ein Faible für moderne Technik, liebt Trickfilme, kleine Roboter und kann Knete und Legosteine fernsteuern.