Lübeck. In einem Lübecker Viertel tragen einige Straßen Namen der Vierländer Stadtteile. Ein Ex-Bundeskanzler wuchs in direkter Nähe auf.
Ganz im Süden, da liegen die Vierlande. Über Altengamme geht es nach Bergedorf, über Neuengamme und Geesthacht bis nach Kirchwerder ganz im Norden. Mit Blick auf die Hamburger Stadtkarte wäre diese Wegbeschreibung natürlich völliger Irrsinn.
Fährt man allerdings gut 60 Kilometer weiter in Richtung Nordosten, dann steht in nur 1500 Metern Entfernung zu Neuengamme sogar das Holstentor, das Wahrzeichen Lübecks. In der schleswig-holsteinischen Hansestadt gibt es nicht nur eine schöne, historische Altstadt an der Trave und ganz viel leckeres Marzipan. Es gibt dort auch ein „kleines Vierlanden“.
Westlich des Holstentors im Stadtteil St. Lorenz liegt der Stadtbezirk Holstentor-Nord. Und darin sind gleich vier Straßen nach den Vierlanden benannt. Ebenso sind Bergedorf und Geesthacht in dem Viertel als Straßennamen vertreten. Geprägt ist das ruhige Wohnquartier von Mehrfamilienhäusern aus Rotklinker, die in verputzte Reihenhäuser übergehen.
Nur etwa 400 Meter von der Vierlandenstraße entfernt in der Trappenstraße wuchs sogar ein Mann auf, der später Geschichte schreiben sollte: Willy Brandt, erster Bundeskanzler der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg und Friedensnobelpreisträger.
Straßen erinnern an die Zeit, als Lübeck über die Vierlande herrschte
Entdeckt hatte dieses kleine Vierlanden mitten in Lübeck kürzlich Peter von Essen. Der langjährige Landgebiet-Redakteur unserer Zeitung lebt seit 33 Jahren in Neuengamme und ist auch durch seine langjährige Mitarbeit an der „Latücht“, Zeitschrift des gleichnamigen Vierländer Kultur- und Heimatvereins, der 2019 aufgelöst wurde, bestens mit der Geschichte der Vier- und Marschlande vertraut. Das in einem Viertel unweit der Lübecker Innenstadt aber einige Straßen nach Vierländer Stadtteilen benannt sind, das war selbst Peter von Essen neu.
Der 77-Jährige hatte eigentlich auf einem Stadtplan von Lübeck das Vorzeigewohngebiet Bornkamp gesucht, das kürzlich als Motiv des Bergedorfer Luftbildfotografen Holger Weitzel als Briefmarke veröffentlicht wurde. „Und als ich mit dem Finger einen Spaziergang über die Landkarte machte, da entdeckte ich plötzlich die Vierländer Straßen“, berichtet Peter von Essen.
Lübeck und Bergedorf haben eine gemeinsame Vergangenheit
Was der ehemalige Redakteur auch sogleich als Grund für die Benennung der Straßen vermutete, bestätigt eine Nachfrage bei der Lübecker Pressestelle. Denn ganz so überraschend sind die Straßennamen nicht, verbindet Lübeck und Bergedorf doch eine gemeinsame Vergangenheit: 1420 griffen die Hansestädte Hamburg und Lübeck gemeinsam die Stadt Bergedorf an. Die Gründe lagen zum einen im Raubrittertum des Hauses Sachsen-Lauenburg, das die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Hansestädte tangierte, und zum zweiten aus Lübecker Sicht im verletzten Pfandvertrag.
Im Vertrag von Perleberg sicherten sich Hamburg und Lübeck die „beiderstädtische Herrschaft“ (Kondominium) über Bergedorf, die Vierlande, Geesthacht und den halben Sachsenwald. Bis 1868 gehörte Bergedorf gemeinsam den beiden Hansestädten und wurde von ihnen abwechselnd regiert. Danach ging das Amt Bergedorf in den alleinigen Besitz Hamburgs über.
In der Hansestadt Lübeck gibt es etwa 2070 Straßennamen
53 Jahre später wurde in Lübeck an diese Zeit erinnert, indem drei Straßen nach der gemeinsamen Geschichte benannt wurden: Am 9. Juli 1921 wurden die Vierlandenstraße, die Altengammer Straße und die Bergedorfer Straße durch einen Senatsbeschluss benannt. Zehn Jahre später folgte die Neuengammer Straße und zuletzt die Kirchwerderstraße im Juni 1955.
Heute existieren in Lübeck insgesamt etwa 2070 Straßennamen für öffentliche Straßen, Plätze, Gänge und Höfe sowie Geh- und Radwege. Das beschlussfassende Gremium für die Straßenbenennungen ist der Bauausschuss der Hansestadt Lübeck nach vorheriger Beratung im Senat. Die städtische Bürgerschaft kann jedoch Empfehlungen zur Benennung aussprechen.