Hamburg. Um Grundsicherung oder Rente zu beantragen, bedarf es einer Menge Schreiben. Sozialökonomin berät kostenlos im Auftrag der Linken.
Renate L. hatte sich genau gemerkt, dass sie sich sechs Monate vorher melden muss. Aber dann sagte ihr die Rentenversicherung, sie möge in drei Monaten einfach noch mal anrufen. Das tat die Lohbrügger Seniorin pflichtgemäß – und bekam zu hören, jetzt sei es zu spät für eine pünktliche Rentenzahlung. Nun sollte sie einer sogenannten Hochrechnung zustimmen. So richtig verstanden hatte das die 67-Jährige aber nicht.
„Es darf nicht sein, dass erwachsene Menschen, die ihr Geld Jahrzehnte einer Versicherung anvertrauen, nun wie ein Schulkind belehrt werden“, ärgert sich Sozialberaterin Karin Liedtke und rät dazu, einer Hochrechnung zu widersprechen – auch wenn es nur drei oder vier Euro weniger sein mögen. „Viele Menschen sind verunsichert, die müssen gestärkt werden, und das geht auch über die politische Ebene“, so Liedtke. Im Auftrag der Linken bietet sie zweimal monatlich eine kostenlose Sozialberatung an der Serrahnstraße 1 in Bergedorf an – auch digital oder am Telefon.
Die Linken legen ihre Diäten zusammen und finanzieren die Sozialberatung
Seit zwei Jahren legen die fünf Abgeordneten der Bergedorfer Links-Fraktion ihre Diäten zusammen und finanzieren das Angebot für alle Bergedorfer. An jedem ersten und dritten Dienstag melden sich zwischen 14 und 16 Uhr bis zu acht Hilfesuchende, die sich zuvor über Telefon 040/25 49 12 53 angemeldet haben. Die meisten sind Mitte 40 bis Mitte 80 Jahre alt – und schauen verzweifelt auf ihre Unterlagen.
„Als Erstes prüfe ich, ob Mitwirkungs- oder Widerspruchsfristen verstreichen können. Dann kläre ich die Rechtslage und sehe mir diverse Urteile an. Schließlich will ich alle Möglichkeiten aufzeigen und die Folgen daraus besprechen“, sagt Karin Liedtke, die selbst die schwierigsten Themen der Sozialgesetzbücher einfach und auf Augenhöhe erklären kann.
„Dass Menschen in vertrackten Situationen zu ihrem Recht kommen, bewegt mich“, sagt die Hamburger Sozialökonomin, die in ihrem Studium die Schwerpunkte Soziologie und Recht gewählt hatte. Wichtig sei zunächst immer, die Behördenpost zu übersetzen, „deren Sprache so manchen ratlos verzweifeln lässt“, wie sie seit ihrem Ehrenamt für den Sozialverband Deutschland weiß.
Darf ich mein Erspartes behalten?
Mit zittriger Stimme schildern manche Bergedorfer ihre scheinbar ausweglose Situation. „Sie ist manchmal beängstigend, belastend und existenzbedrohend“, weiß Karin Liedtke und denkt etwa an Frau S. (60), die es in der Corona-Zeit einfach nicht mehr aushält.
Sie will sich nach 30 Jahren scheiden lassen. Frau S. braucht Grundsicherung, sorgt sich aber um ihr Erspartes, immerhin sind 10.000 Euro im Schließfach. Da kann die Sozialberaterin schnell beruhigen: Ein Vermögen bis 60.000 Euro ist erlaubt.
Hartz-IV-Satz macht Sparen unmöglich
Andere brauchen akute Hilfe, weil der Kühlschrank leer ist. Der Hartz-IV-Satz von 449 Euro macht Sparen schier unmöglich. Und beim Wechsel in die Rente entsteht eine Zahlungslücke: Noch bevor die erste Rente am Monatsende gezahlt wird, stellt das Jobcenter die Zahlung ein.
„Da lässt sich ein Darlehen beantragen. Das geht beim Bergedorfer Amt für Grundsicherung im Notfall innerhalb einer Woche“, lobt Liedtke und sieht mit Blick auf die Inflation von 5,1 Prozent sorgenvoll, dass die Sozialleistungen bloß um 0,7 Prozent erhöht wurden: „Die Unterdeckung des Existenzminimums wächst.“
Arbeiten trotz Arbeitsunfähigkeit?
Auch Herr M. kam jüngst in ihre Beratung. Der 46-Jährige leidet an Multipler Sklerose. Vor lauter Arztterminen konnte sich der VHH-Busfahrer nicht darum kümmern, als seine Krankenkasse das Ende des Krankengeldes nach 72 Wochen ankündigte. Warum sollte er sich bei der Arbeitsagentur melden, wo er doch arbeitsunfähig ist?
„Man wird ihn fragen, ob er sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt“, ahnt Liedtke und auch, dass deren medizinischer Dienst ihn auffordern wird, einen Antrag auf Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen. „Er sollte sich unbedingt als verfügbar melden“, rät sie, denn: „Mit seinem Rest-Leistungsvermögen bekommt er trotz Arbeitsunfähigkeit ein Arbeitslosengeld.“
„Auf seinen Rechtsanspruch sollte niemand verzichten“
Wer früher einmal gut verdient hat, erlebt die Grundsicherung als Absturz – und sorgt sich vielleicht um seine lang bezahlte Lebensversicherung. „Aber die lässt sich noch beim Versicherer in eine Altersvorsorge umwandeln, auch wenn der Antrag auf Hartz IV noch nicht beschieden ist“, erklärt Karin Liedtke und weiß, dass selbst vier Jahre später noch ein Überprüfungsantrag möglich ist.
All diese Beispiele zeigen, dass man nicht aus falscher Scham auf seinen Rechtsanspruch verzichten sollte: Man muss Anträge stellen, die Bescheide prüfen und auch mal Widerspruch einlegen, so die Sozialberaterin „Ausdauer lohnt, um Zumutungen abzuwehren.
Da gilt wie im sportlichen Wettkampf: Wer zu früh aufgibt, hat schon verloren.“ Zuletzt konnte sie einen Vater begleiten, dessen schwerbehinderte Tochter aus Sicht des Amtes wieder in die elterliche Wohnung einziehen sollte – „obwohl sie längst volljährig ist“.