Lohbrügge. Hygieneregeln stürzen die Branche trotz Öffnung in Krise. Lohbrügger Kult-Wirt fürchtet eine bald anrollende großer Pleitewelle.

Wenn Roland Sander einen neuen Gast in seiner Kneipe entdeckte, wurde gleich geschnackt: „Name, Beruf und Alter, vielleicht auch die Straße, in der er wohnt – sowas muss ein guter Wirt wissen. Jedenfalls wenn er seinen Job ernst nimmt“, sagt Lohbrügges legendärer Kneipier, der von 1971 über fast 40 Jahre diverse Lokale führte, darunter den Sander Krug, die Loma, den Weinkeller 90, die Fledermaus – und natürlich den Sander Treff, wo der 75-Jährige heute (nur) noch der Vermieter ist.

„Kneipe ist zweites Zuhause, wo niemand einsam ist“

„Eine Kneipe läuft dann rund, wenn der Wirt seine Gäste zusammenbringt. Wir feiern jeden Tag eine Party mit Leuten, die bei uns vom Alltag abschalten wollen“, sagt der Experte. „Wenn wir die miteinander ins Gespräch bringen, wird die Kneipe zu dem, was sie sein muss: Ein zweites Zuhause – und zwar eines, wo niemand einsam ist.“

Wirt im Sander Treff komplette Miete erlassen

Eine Erfolgsphilosophie, die seit März schwer an Corona erkrankt ist. Und das bis heute, obwohl seit zwölf Tagen wieder geöffnet werden darf. „Abstandsregeln, Mundschutz, vielleicht sogar Reservierungspflicht sind sicher sinnvoll. Aber sie vertragen sich nicht mit der Idee vom zweiten Wohnzimmer“, sagt Sander, der auf die Krise in seiner Art reagiert: Matthias Schulz, seit Januar 2019 von ihm selbst aus verschiedenen Interessenten ausgewählter neuer Wirt im Sander Treff, hat er vorerst die Miete erlassen – und ist mit seinen Skat-Freunden natürlich donnerstags längst wieder Gast im Haus. „Wir müssen alle helfen, diese schwere Krise zu überstehen. Sonst gibt es auch in Lohbrügge und Bergedorf bald keine Kneipe mehr“, fürchtet Roland Sander doch „eine ganz große Pleitewelle, die demnächst noch auf uns zurollen wird“.

„Umsätze aktuell bei nur noch 30 Prozent“

Matthias Schulz, der mit 48 Jahren als ausgebildeter Handwerker in die Gastronomie gewechselt hatte, weiß um die Chancen, die ihm Sander durch den Mietverzicht verschafft: „Meine Umsätze liegen heute bei 30 Prozent gegenüber dem Durchschnitt vor Corona. Mit Glück geht es mittelfristig hoch auf 50 Prozent. Aber mehr sehe ich auf lange Sicht nicht.“

Wer keinen Platz im Tresenraum bekommt, fühlt sich abgeschnitten

Dabei hat er noch Glück: Samt Saal und Nebenräumen bietet der Sander Treff stattliche 280 Quadratmeter Platz für die Gäste – plus Biergarten hinter dem Haus. „Die Leute sind richtig dankbar, dass meine Türen täglich ab 16 Uhr endlich wieder offen sind. Aber wer dann wegen der Abstandsregeln keinen Platz mehr im Tresenraum bekommt, fühlt sich wie abgeschnitten von seinen Freunden. Selbst wenn einige davon auch im großen Saal sitzen sollten.“

Wehmütiger Blick auf bunte Kneipen-Szene der 70er- und 80er-Jahre

Mit einiger Wehmut blickt Roland Sander zurück auf die 1970er- und 1980er-Jahre, als die Kneipen-Landschaft in ganz Bergedorf sehr vielfältig war: „Damals gab es noch kein Internet, das viele Leute heute zu Hause vereinsamen lässt. Und auch kein Nichtraucher-Schutzgesetz, das uns vor zehn Jahren schwer zugesetzt hat.“ Trotzdem habe sich die Kneipe selbst in Corona-Zeiten nicht überlebt: „Wohin kann man denn sonst allein und ganz spontan abends hingehen?“