Bergedorf. Der Weiße Ring hilft Kriminalitätsopfern - immer mehr sind es Opfer häuslicher Gewalt und von Nachstellungen.

„Es wird ein langer, schmutziger Kampf“, ist sich Werner Springer sicher. Aber es kann sich lohnen – wenigstens für das Gefühl, dass die Taten endlich anerkannt werden. So empfahl es der Fachmann des Opferhilfevereins „Weißer Ring“ der Bergedorferin Astrid D. Die 47-Jährige war zur Beratung gekommen, weil ihr Vater sie jahrelang mit der Gürtelschnalle und dem Besenstil geschlagen hatte. Mit ihrer Mutter war sie sogar vorübergehend ins Frauenhaus geflüchtet.

Mutter und Tochter fliehen

Heute will die Mutter davon nichts mehr wissen. Auch die Geschwister von Astrid D. sind nicht zur Zeugenaussage bereit. „Dabei leidet die 47-Jährige unter Angstzuständen und einer Bindungsstörung, kann kaum unter Stress arbeiten“, sagt Springer. Er will dafür kämpfen, dass die Frau vom Versorgungsamt wenigstens eine Rente von 160 Euro bekommt – „und die Genugtuung, es versucht zu haben“.

87 Opfer in Bergedorf fragten nach Hilfe

Ein Wandel sei deutlich zu spüren, „allein, weil es kaum noch eine heile, funktionierende Familie gibt“: Waren es vor zwei Jahren noch allgemein Körperverletzungen, so stehen jetzt häusliche Gewalt und Nachstellungen ganz oben auf der Liste: „Sie machen gut ein Viertel aller Opferfälle aus“, sagt Werner Springer, der in einem Team von elf Ehrenamtlichen die Menschen berät, an jedem dritten Montag im Monat im Bergedorfer Rathauskeller (nächster Termin: 15. Januar, 16 bis 17 Uhr). Die Zahlen sind relativ stabil: 87 Opferfälle wurden gezählt, im Vorjahr waren es 91. Das jüngste Opfer war acht, das älteste 75 Jahre alt, in 60 Fällen waren Frauen betroffen.

Senior überrascht Einbrecher

Die Opfer ließen sich nach Sexual-Delikten (14 Fälle), Körperverletzungen (19) und häuslicher Gewalt (21) beraten. Hinzu kamen Diebstahl (8 Fälle) sowie Raub, Tötung und Einbruch (jeweils 5). Zehn Fälle fallen unter „Sonstiges“, etwa Beleidigung oder Betrug. Das Spektrum ist bunt, reicht durch alle Schichten und Kulturen: Da gibt es den 74-Jährigen, der Einbrecher überrascht hat und jetzt eine Gegenüberstellung in der Gerichtsverhandlung fürchtet. Oder eine Dame, die für ihren Urlaub einen „Haus-Sitter“ bat, sich um die Blumen zu kümmern: Die Blumen sahen tatsächlich gut aus – aber Geld und Schmuck sind verschwunden.

„Große Liebe“ aus Afrika taucht mit 7000 Euro ab

Und da gibt es den Mann in den 50-ern, der über Facebook seine große Liebe an der Elfenbeinküste fand – und ihr 7000 Euro schickte, obwohl er selbst in Privatinsolvenz lebt. Die Frau schrieb, sie sei schon am Flughafen von Paris gewesen, hätte dann aber kein Geld gehabt, um weiter nach Bergedorf zu reisen. Springer: „Das Tragische ist vor allem, dass er immer noch glaubt, die Dame würde wirklich existieren.“

Misshandlung durch die Polizei

Auch der G 20-Gipfel wirkt in Bergedorf nach: Zwei Menschen beklagen Misshandlungen durch die Polizei, schildert Springer, der von 2001 bis 2013 selbst Jugendbeauftragter der Polizei war: „Ein junger Mann sagt, er sei zu Boden gedrückt und getreten worden. Eine Frau hatte nach einer Rangelei eine ausgekugelte Schulter, sich das auch bei der Rechtsmedizin attestieren lassen.“ Zunächst aber müssten die ersten Verfahren abgeschlossen sein: Beiden Demonstranten wird Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen.

Mit Föhn vor der Badewanne

Besonders am Herzen liegt Werner Springer die Hilfe für Opfer häuslicher Gewalt. Jennifer S. aus Neuallermöhe lebt in einer Gewaltbeziehung. „Sie wird eingesperrt, darf kein Handy haben, nicht allein einkaufen. Dazu kommen Demütigungen: Sie wurde mehrfach gewürgt, mit dem Gürtel geschlagen, der Mann stand neben ihr an der Badewanne mit einem Föhn in der Hand.“

Aber da sei immer noch ein Funken Liebe und Hoffnung, er würde sich irgendwann ändern. Erst, als auch die Kinder geprügelt wurden, floh Jennifer S. in ein Frauenhaus. Jetzt will sie nach dem Gewaltschutzgesetz einen Antrag stellen: „Dann fliegt der Peiniger aus der Wohnung und bekommt Kontaktverbot, so dass er sich weder nähern darf noch eine SMS schreiben“, erläutert Springer.

Nach Vergewaltigung „Opfer ohne Lobby“

Das Problem ist vielfach die Beweislage: „Ein „Nein“ lässt man sich schließlich nicht unterschreiben – und zu oft entschieden Richter „im Zweifel für den Angeklagten“: Gerade vergewaltigte Frauen seien „Opfer ohne Lobby“, meinen die Berliner Notärztin Almut Meyer und Kriminologie-Professorin Dr. Dorothee Dienstbühl: Das Strafrecht lasse Richtern viel Interpretations-Spielraum, klagen sie in der aktuellen Zeitschrift der Polizei-Gewerkschaft: „Vergewaltigungen führen vor deutschen Gerichten relativ selten zu Verurteilungen.“ Allein 2016 wurden 14 905 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung angezeigt. Nur 8,4 Prozent der Frauen, die eine Anzeige erstatteten, erlebten auch eine Verurteilung des Täters, klagen die Autorinnen.

Opfer leiden ihr Leben lang

Manchmal kämpfen Opfer ihr Leben lang gegen Scham- und Schuldgefühle. „Wäre ich doch nicht durch den Park gelaufen“, „Hätte ich doch ein Taxi genommen“, „Hätte ich mich nicht von ihm begleiten lassen“: Solche Sätze belegen, dass die Zeit längst nicht alle Wunden heilen kann.