Am Wochenende ertranken zwei Flüchtlinge im Allermöher See. Daneben wurde ein Radfahrer erschossen. Wurden Rettungskräfte behindert?
"Das war ein schreckliches Wochenende. Ich kam mir vor wie in einem Thriller.“ Paulina Andag hatte sich gerade auf dem Balkon gesonnt, als am Sonntagnachmittag nur wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt zwei Menschen fast zeitgleich aus dem Leben gerissen wurden. Auf der Brücke über das Fährbuernfleet wurde ein Radfahrer erschossen. Im Badesee gleich um die Ecke ertrank ein Jugendlicher. Er ist bereits der zweite Badetote an diesem Neuallermöher Horror-Wochenende.
Der Schock steht Paulina Andag noch ins Gesicht geschrieben, als sie am Montagvormittag Dackel Ylvi ausführt. Sie hat Angst. „Der Täter läuft noch frei herum. Auch ich bin hier jeden Tag mit dem Fahrrad unterwegs.“ Entsetzen auch bei den beiden Nachbarn, die ein Stück weiter vor ihren Häusern stehen. In einem Vorgarten weht eine HSV-Fahne auf Halbmast, daneben im Carport steht ein Peugeot mit einer beschädigten Windschutzscheibe. Es sieht aus wie ein Einschussloch, aber die Scheibe wurde nicht durchschlagen. In der Aufregung am Sonntag haben die Besitzer den Schaden übersehen. Jetzt soll die Polizei prüfen, ob es ein Querschläger war.
Schilf und Büsche versperren den Blick
„Drei Tote innerhalb von 24 Stunden. Das ist wirklich entsetzlich“, sagt ein anderer Nachbar, der seit 14 Jahren im Stadtteil wohnt und ebenfalls anonym bleiben möchte. Nachdem er am Sonntag erst Schüsse, dann Martinshörner gehört hatte, war er rausgegangen. Er sei kein Gaffer, habe sich vom Unglücksort ferngehalten, betont er. „Aber ich habe mitgeholfen, das Verkehrschaos aufzulösen.“ Der Fanny-Lewald-Ring, eine ruhige Straße in dem beschaulichen Wohngebiet, war nach den tödlichen Schüssen gesperrt worden. Busse und Autos stauten sich in beide Richtungen. Dazu kamen viele Besucher des Allermöher Sees, die auf ihrem Rückweg am Tatort vorbeimussten. Da dieser jedoch – an der Einmündung zum Badesee – abgesperrt war, war ihnen der Weg abgeschnitten. Es waren also weniger Neugierige als Passanten, die dem Rettungswagen im Weg standen, der am Fanny-Lewald-Ring zum Allermöher See gerufen worden war. Dort liefen die Bergungsarbeiten für einen 17-jährigen Flüchtlingsjungen, der zunächst reanimiert werden konnte, in der Klinik jedoch starb.
Schüsse auf Radfahrer in Neuallermöhe
Auch der am Tag zuvor Ertrunkene war ein 17-jähriger Flüchtling. Beide konnten offenbar nicht schwimmen, was bei Nordafrikanern nicht ungewöhnlich ist. „Es ist tragisch. Die Jungen sind nicht vor Griechenland oder Italien ertrunken, sondern in einem Hamburger Badesee“, sagt Anwohner Johann Benna mit russischem Akzent und betroffenem Gesicht. Er wohnt seit 17 Jahren in der Nähe und kommt regelmäßig zum Schwimmen her, auch jetzt, in der Mittagspause. Und er erhebt Vorwürfe. Schon häufig seien Badende im Allermöher See ertrunken, sagt er. Doch die Sicherheit lasse immer noch zu wünschen übrig. Er zeigt auf die leeren Metallpfosten, an denen früher Rettungsringe hingen. Einen davon hat er selber mal einem Mann zugeworfen, der ohne Hilfe wahrscheinlich ertrunken wäre. Auch ein Kind habe er schon einmal aus dem Wasser gezogen, gerade noch rechtzeitig.
Dann zeigt er auf ein paar weiße Fässer, die auf dem Wasser tanzen. Dass sie die Nichtschwimmerzone markieren, ist nicht ersichtlich. „Man müsste eine Leine spannen, damit die Badegäste wissen: Das ist eine Sperre“, sagt Benna. „Außerdem ist das Wasser viel zu tief. Gerade hier am Steg, wo sich die meisten Jugendlichen aufhalten, und der im Nichtschwimmerbereich liegt.“ Um das zu demonstrieren, springt er ins Wasser. Es steht ihm bis zum Hals – eindeutig zu tief für Nichtschwimmer.
Nicht alle Stellen sind einsehbar
Ein dritter Punkt, den Benna moniert: Nicht alle Stellen der Badebucht sind einsehbar. An manchen Stellen versperren Schilf und Büsche den Blick vom Aufsichtsturm auf das Wasser. Seit Ende Mai 2015 hat der Verein Sicheres Wasser (SiWa) an den Wochenende die Aufsicht am Allermöher See. Dort könne man sich nicht erklären, wie es zu den beiden Unglücken kommen konnte, sagte Sprecherin Monika Rethlaff.
Der Verein arbeitet auf ehrenamtlicher Basis, wird aber vom Bezirksamt Bergedorf unterstützt, das am Ufer unter anderem eine Wachstation eingerichtet hat. Die freiwillige Badeaufsicht ist eine Maßnahme, mit der das Bezirksamt auf eine Risikoanalyse der DLRG reagiert hat, die es vor vier Jahren in Auftrag gegeben hat. Auch weitere Veränderungshinweise wie das Freischneiden von Sichtachsen seien umgesetzt worden, so Bergedorf-Sprecher Andreas Aholt. Einen offiziellen Nichtschwimmerbereich gebe es bei Badeseen grundsätzlich nicht. Bei den weißen Tonnen handelt es sich um übliche Hinweise auf besondere Gefahrstellen. „Ein See ist keine Badeanstalt, sondern ein Naturgewässer“, so Aholt. „Grundsätzlich sollten ihn nur Personen nutzen, die schwimmen können.“
Dennoch würden die tragischen Todesfälle die Bezirksverwaltung verpflichten zu prüfen, wie die Sicherheit verbessert werden könne. Der Unfallhergang der beiden tragischen Badeunfälle werde genau untersucht, um abzuleiten, mit welchen Maßnahmen die Sicherheit erhöht werden könne. Bereits geplant ist, für den Verein SiWa eine weitere Plattform im Wasser zu schaffen, von der die Aufsicht über den See noch besser geführt werden könne. Auch Warnschilder mit Piktogrammen könnten am Ufer aufgestellt werden. Allerdings müssten Flüchtlinge bereits in ihren Unterkünften über Baderegeln und Gefahren aufgeklärt werden.
Das soll jetzt geschehen. „Diese tragischen Unfälle sind für uns Anlass, in den Unterkünften noch intensiver Baderegeln in allen Sprachen auszulegen“, sagte Kerstin Graupner, Sprecherin des Zentralen Koordinierungsstabs Flüchtlinge (ZKF). So lägen die Baderegeln und Hinweise des DLRG zum Schwimmen in öffentlichen Gewässern zwar in gängigen Sprachen vor, wären bisher jedoch nicht systematisch verteilt worden. „Weil wir davon ausgegangen sind, dass erwachsene Menschen unabhängig von ihrer Herkunft die Gefahren des Badens in unbekannten Gewässern einschätzen können.“
Laut ZKF bietet der DLRG kostenlose Schwimmkurse in Altona, Billstedt und in Farmsen an, finanziert von der Innenbehörde. In Wandsbek wurde vom SC Urania ein Schwimmkursus für geflüchtete Frauen angeboten. Zudem erhalte jeder Schüler in der dritten und vierten Klasse unabhängig von seiner Herkunft jeweils ein halbes Jahr Schwimmunterricht. Kerstin Graupner erklärte weiter: „Die kostenpflichtigen Schwimmkurse werden von der Sozialbehörde auch anteilig über das Bildungs- und Teilhabepaket bezahlt.“
Die vielen Badeunfälle beschäftigen mittlerweile auch die Bürgerschaft. So forderte Christiane Schneider (Linkspartei), dass die Stadt mehr tun müsse, um Flüchtlingen das Schwimmen beizubringen. „Sehr viele Flüchtlinge haben nicht schwimmen gelernt und sind sich deshalb auch der Gefahren nicht ausreichend bewusst.“ Flüchtlinge, die zur Schule gehen, erhielten zwar bei Bedarf einen Gutschein für Schwimmunterricht – die würden aber nur selten eingelöst, so Schneider. „Der Senat macht es sich zu einfach, wenn er den Kindern einen Gutschein in die Hand drückt und alles Weitere ihnen überlässt.“
Wurden Rettungskräfte durch Falschparker behindert?
Auch der FDP-Abgeordnete Daniel Oetzel forderte, geflüchtete Kinder sollten „so bald wie möglich“ am Schulschwimmunterricht teilnehmen. Und Nichtschwimmer, unabhängig davon, ob es sich um Geflüchtete handelt oder nicht, müssten aktiv auf die Risiken an Gewässern hingewiesen werden, sagte Oetzel und plädiert insbesondere an die Betreiber der Flüchtlingsunterkünfte.
Dennis Gladiator, CDU-Abgeordneter aus Bergedorf, plädiert dafür, am Allermöher See die Abtrennung zwischen Schwimmer- und Nichtschwimmerbereich zu überprüfen: „Die Erkennbarkeit muss gewährleistet sein.“ Wie Gladiator erfahren hat, sollen die Rettungskräfte auf der Anfahrt zum Allermöher See durch falsch geparkte Autos behindert worden sein. Daher hat er eine schriftliche Kleine Anfrage an den Senat gestellt, um zu klären, wie die Situation vor Ort war, wie der Parkraum dort überwacht wird und wie der Nichtschwimmerbereich besser abgetrennt werden könne.