Bergedorf. Der Jugendrichter und Direktor des Amtsgerichts Bergedorf Holger Bork klagt über die „schwer nachvollziehbare Brutalität“ mancher jugendlicher Gewalttäter. Viele Heranwachsende werden wegen gescheiterter Erziehung und aus Sehnsucht nach Anerkennung vor Freunden kriminell.
Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen erfreulich: Mittelfristig nimmt die Anzahl der Jugenddelikte in Bergedorf ab, erschreckend sind allerdings die „Gewaltstraftaten mit schwer nachvollziehbarer Brutalität“, sagt Holger Bork, seit 2006 Direktor am Bergedorfer Amtsgericht. Der 56-Jährige kümmert sich nicht nur um Familienrecht, Pacht- oder Erbstreitigkeiten. Seit gut einem Jahr hat er auch zu 50 Prozent von Olof Masch den Job des Bergedorfer Jugendrichters übernommen: „Ich bin erschüttert“, bilanziert Bork.
Doppelt so viele schwerwiegende Anklagen
Landeten 2011 noch 353 Strafsachen vor dem Bergedorfer Jugendgericht, werden es 2013 hochgerechnet wahrscheinlich 336 Fälle sein, nach 334 im Vorjahr. Hinzu kommen schwerer wiegende Anklagen, bei denen eine Freiheitsstrafe zu erwarten ist und die vorm Schöffengericht verhandelt werden. Das werden in diesem Jahr wohl 38 Fälle sein, nach 19 im Jahr 2012 und 42 im Jahr 2011. Tötungsdelikte werden vor dem Landgericht verhandelt.
Schwer nachvollziehbare Brutalität
Viermal in einem Jahr musste Holger Bork sich mit Fällen außerordentlicher Brutalität auseinandersetzen: „Da liegt jemand am Boden, und einer tritt mit voller Wucht mehrfach gegen dessen Gesicht, so als wäre der Kopf ein Fußball.“ Einmal sei das vor der Lola geschehen, weil jemand ein Mädchen angemacht hatte, „da waren sämtliche Knochen gebrochen, eine lebensgefährliche Verletzung“, erinnert sich der Richter. Ein anderer Fall: In einer Disco zahlte ein junger Mann mit zu großen Scheinen – und wurde auf dem Heimweg verfolgt.
Ebenfalls denkt Bork an einen Heranwachsenden aus Neuallermöhe, der aus einem gutbürgerlichen Elternhaus stammt, im Boxverein trainierte: „Er war bei mir noch in der Verhandlung, geht dann abends durch St. Pauli und schlägt aus nichtigstem Anlass – ‚Weil der mich schräg anguckte’ – einen Menschen halb tot. Eigentlich war er cool und gefasst, aber manchmal hat er eben Rot gesehen“, erzählt der Richter, der den 21-Jährigen, „dem sämtliche Empathie fehlt“, nun für ein paar Jahre ins Gefängnis schickte.
Häufige Tatorte: Bahnhof Nettelnburg und Bergedorfer Schlosspark
Der Bahnhof Nettelnburg sei ein häufiger Tatort, ebenso Bergedorfs Schlosspark: „Da hat zuletzt ein Hundebesitzer mit seiner Leine um sich geschlagen. Jemand hatte gesagt, er würde sein Tier nicht gut behandeln.“
Misslungene Erziehung bei Tätern
Er war gerade 18 geworden und zu Hause rausgeflogen, lebte auf der Straße. Mehrfach hatte Bergedorfs Jugendrichter Holger Bork diesen Lohbrügger Straftäter vor sich. „Räuberischer Diebstahl in Serie“ stand auf den Akten. „Er nahm dann mal einen Kanaldeckel oder einen Stein, warf eine Ladenscheibe ein und klaute Zigaretten, die später am Steindamm verkauft wurden“, weiß der Amtsrichter – und wundert sich: „Auch Tankstellen und Apotheken sind videoüberwacht. Dass man da erwischt wird, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“
Traurig ist, dass keine Eltern den Jungen zur Gerichtsverhandlung begleiteten. „Es sind überdurchschnittlich viele Migranten, oft verstehen die Eltern kein Deutsch. Zudem haben viele Täter eine geringe Bildung und besuchen eine Förderschule, Abiturienten sind sehr selten bei mir“, sagt der 56-Jährige. Auch Kinder von Alleinerziehenden müssen vergleichsweise oft vor Gericht erscheinen – „manche Klischees sind da leider schon begründet“, sagt Bork.
Tatmotiv ist häufig Anerkennung
Dass man vielleicht selbst Opfer werden kann, scheint jugendlichen Schlägern nicht in den Sinn zu kommen: „Es gibt viele Mitläufer, die wollen einfach nicht als Schisser dargestellt werden, buhlen bei ihren Kumpels um Anerkennung“, meint der Direktor des Amtsgerichts. Wenig reumütig würden sich auch kleine Dealer zeigen: „Vor Schulen wird etwa mit Marihuana gehandelt. Viele haben überhaupt kein Problembewusstsein und sagen bloß, dass ja alle kiffen würden.“ Längst nicht immer folgt die Strafe auf dem Fuß, häufig wird erst Monate später verhandelt: Erst kommt der Hauptdealer in Haft, dann „folgen die kleineren Randfiguren“.
Ausgleich durch soziale Arbeit
Wirksam sei oft ein Täter-Opfer-Ausgleich, etwa nach einer Schlägerei. Da hatte sich ein Mädchen bei ihrem Freund über einen Dritten beschwert, der würde sie anmachen – wenig später war die Nase gebrochen. „Ich hab’ ihm halt ne Faust gezogen“, heißt das dann im Jugendslang. Jetzt muss der Täter das Schmerzensgeld erarbeiten, etwa einen Radweg entkrauten, einen Bachlauf renaturieren, für Bedürftige kochen oder Parkbänke instand setzen. „Manchen muss ich erst zwei Wochen Beugearrest in der JVA Hahnöfersand androhen, bis sie endlich ihre Arbeitsleistung erbringen“, sagt Holger Bork.
Neues Trend: Schulschwänzen
Zum Glück sind nicht alle Fälle brutal, die er in Bergedorf verhandeln muss – zunehmend kommt das Thema Schulschwänzen (Absentismus) vor Gericht. Wie etwa bei dem Mädchen, das an 80 Tagen eines Jahres in der Schule fehlte, die Mutter das Bußgeld nicht zahlen wollte. „Da kam heraus, dass sie gemobbt und aus Angst vor der Schule schon therapiert wird“, erinnert sich Bork. Gerade das Thema Schulschwänzen lohne sich also anzupacken: „Wir müssen so früh wie möglich eingreifen. Schon ein Eierdieb sollte angeklagt und ermahnt werden.“