Das Märchen aus Bergedorf. Eine gescheiterte Umsiedlungsaktion der Schnecke brachte zutage: Das “seltene“ Tier ist gar nicht so selten.
Bergedorf. Es war einmal eine Schnecke mit dem zauberhaften Vornamen "Zierliche" aus der Familie der Tellerschnecken. Diesem kleinen Tierchen wollten zweibeinige Wesen unter dem Banner des grünlichen Fortschritts zu Leibe rücken. Doch es misslang aufs Kläglichste. Was hier wie ein Märchen beginnt, ist tatsächlich eines, nur wurde es bisher verschwiegen. Hier ist die wahre Geschichte ...
Sie beginnt im Königreich der Schnecken. Das ist Bergedorf. Denn, was keiner weiß: Der Bezirk verfügt nicht nur als einziger Hamburgs über ein richtiges Schloss, sondern auch über allerfeinstes Wasser. In den Vier- und Marschlanden steht nicht nur Hamburgs größtes Wasserwerk. Die Schnecken wissen auch: Bergedorf hat mit zwölf Quadratkilometern die größte Wasserfläche der Stadt außerhalb des Hafens. Die zartfühlende Schnecke fühlt sich nur in Gräben pudelwohl - und davon hat Bergedorf reichlich: Unglaubliche 2900 Kilometer lang sind alle Gräben Bergedorfs - ein Himmelreich für Tellerschnecken.
Wie in jedem Märchen gibt es die Guten und die, sagen wir, nicht ganz so Guten. Letztere sitzen weit entfernt von Bergedorf mitten in Hamburg. Das heißt, sie saßen anno 2009 unter schwarz-grüner Beflaggung im hamburgischen Rathaus und versuchten sich im Regieren.
Was nicht nur oberirdisch zu manch Projekten führte, die so verzwickt sind, dass sie nie fertig werden. Sondern was in Bergedorf auch zu politischen Fehlern geradezu unterirdischen Ausmaßes führte. Im Jahr 2009 kamen die Grünen im Rathaus auf die Idee, einen ebenfalls grünen Logistikpark zu planen. Natürlich den größten Europas. Riesige Hallen und Anlagen sollten entstehen für die Lagerung und den Transport von Waren - und Arbeitsplätze für mehr als 1000 zweibeinige Wesen. Alles ohne Lärm, ohne Bodenversiegelung und mit erneuerbaren Energien - natürlich. Und mit 100 Millionen Euro aus dem scheinbar nie versiegenden Goldtopf der Hansestadt.
Die Rache der Schnecken kam artgerecht langsam, war aber fürchterlich. Das hätten die glorreichen Planer durchaus ahnen können, wenn sie denn bei den Kollegen der Umweltbehörde nachgelesen hätten. Haben sie aber nicht. Schon gar nicht im Stammbuch derer von Anisus Vorticulus, wie sich die Zierliche Tellerschnecke lateinisch nennen lässt. Das ebenfalls 2009 erstellte Stammbuch der Schnecken heißt "Atlas der Süßwassermollusken Hamburgs" und zeichnet jeden ihrer Wohnorte auf. Peter Glöer und Reinhard Diercking haben diese ritterliche Arbeit geleistet. Die beiden wurden aus dem schwedischen Königreich unterstützt von Dr. Ted von Proschwitz vom Naturhistorischen Museum Göteborg. Eine internationale Phalanx also.
In Bergedorf hatte das Schneckchen nachgewiesen 24 Wohnorte - darunter auch jenen, den die grünen Fortschrittsplaner sich für den Logistikpark ausgeguckt hatten: ganz in der Nähe der Autobahn. Dort leben die Schneckenfamilien sogar zu Tausenden.
Zur Winterzeit, als die Schnecken tief im Schlamm verkrochen ihre Bergedorfer Ruhe genossen, reifte ihr Plan: Sie wurden entdeckt! Die Aufregung war groß. Denn das zierliche Tierchen ist vom Aussterben bedroht und auf der Roten Liste. Als "streng geschützte Art" darf man dem Tierchen nichts tun, höchstens es ganz zart umsiedeln. So steht es in den Richtlinien. Schlecht für die Logistik.
Mollusken, die vom Aussterben bedroht sind, "müssen nicht nur erfolgreich ungesiedelt werden, man muss es auch nachweisen", erklärte der Hamburger Zoologieprofessor Bernhard Hausdorf dem Hamburger Abendblatt. Was Jahre dauert. Und was einem grünen Logistikpark einen gar nicht schneckenhaften, nämlich vielmehr schnellen (und teuren) Tod bescheren sollte.
Um den schönen Logistikpark doch noch zu retten, hatten sich die Bergedorfer Bezirkspolitiker entschieden, es tatsächlich mit der richtlinientreuen Umsiedlung der seltenen Mollusken zu versuchen. Sie schickten Biologen, die herausfinden sollten, wie die Tierchen umgesiedelt werden können. Das geschah auch. Doch dann passierten zwei Dinge fast gleichzeitig: Erstens entdecken Bergedorfs Politiker, dass der hanseatische Goldtopf doch nicht unerschöpflich ist. Und sie stoppten die 370.000 Euro teure Umsiedlungsaktion unter Verwendung eines politischen Fremdwortes, nämlich der "unverantwortlichen Geldverschwendung".
Es kommt aber noch schlimmer für die zweibeinigen Planer: Weil die so seltene Schnecke nur in Gräben umgesiedelt werden darf, in denen sie nicht bereits vorkommt, haben die Biologen schneckenfreie Gräben gesucht. Gibt's aber kaum im Schneckenreich Bergedorf. Fast jeder zweite von 34 untersuchten Gräben beinhaltet Anisus Vorticulus! Und das war nur eine Stichprobe. In Bergedorf gibt es mehr als 1000 Gräben - und somit vermutlich Hunderte mit zierlichen Tellerschnecken. Und wenn sie nicht (aus)gestorben sind, dann, na ja, Sie wissen schon ...