Auf dem Friedhof entstehen die schönsten Lebensgeschichten. In meinem Kopf. Die vielen Engelsfiguren verleihen meiner Fantasie Flügel, sie will dem Himmel ganz nah sein. Unzählige Engelchen, dazu vier rote Herzchen schmücken das Grab von Carmen Stankowski.
Ihre ganz eigenen Gedanken zum Totensonntag machte sich eine Redakteurin der BZ.
"Warum", steht auf dem Stein. Sie wurde nur 17 Jahre alt. Hatte sie wohl Kummer? War ein Autofahrer unaufmerksam? Wer über den Bergedorfer Friedhof spaziert, kann sich viele Fragen stellen. Das tut gut. Da klammert sich die Seele an die Gegenwart.
Das Foto von Carmen zeigt eine hübsche junge Frau. Ihr Lachen muss wunderschön geklungen haben. Ob sie gerne malte und Lakritzschnecken mochte?
Im Mittelmeer-Raum sind viel mehr Fotos auf den Friedhöfen zu sehen. Da kann man sich einen lebendigen Menschen vorstellen. Die Gedanken schweifen nicht so sehr ab, bleiben nicht an Würmern, Wühlmäusen oder verrottetem Holz hängen. Auch Christa Meyer hat ein Porträt-Foto auf ihrem Grabstein. Sie trägt eine braune Bluse und lächelt liebevoll. Ich weiß nicht, ob sie Schmerzen hatte, als sie ausgerechnet am 24. Dezember vor zwei Jahren starb. Vielleicht war es eine Erlösung, konnte sich die 75-Jährige damit trösten, nun beim lieben Gott angekommen zu sein. Oder hat sie vielleicht gar nicht an Gott geglaubt? Ist mir fast unvorstellbar. "Der Glaube tröstet, wo die Liebe weint", steht es eingemeißelt in Granit.
Unweigerlich muss ich an meine Oma Käthe denken. Als Kind ging ich wöchentlich mit ihr zum Friedhof, "um unsere Ur-Oma abzuwaschen". Während wir kratzten und harkten und wässerten, kamen immer Leute vorbei, alte Leute, "von früher". Sie fragten Dinge wie "Geht es dem Irmchen nun besser?" oder "Hat Deine Tochter wieder Arbeit gefunden?" Der Friedhof war der Kommunikationsort überhaupt. Oma erzählte mir beim Spaziergang dann, wo der Peter liegt, der ihr mal ein Eis spendiert hatte. Und dass der schöne Hubert, dessen Vater ein strenger Gerichtsvollzieher war, so früh im Krieg gefallen ist. Nach getaner Arbeit kauften wir uns ein halbes Hähnchen und futterten es auf der Bank an der Bushaltestelle. Eine liebenswerte Tradition.
Auch auf dem Bergedorfer Friedhof treffe ich Leute an, die harken und kratzen. Klar, kurz vor Totensonntag wird alles fein gemacht. Das ist eben so. "Meine Eltern, die Großeltern und die Tante liegen hier", erzählt Wolfgang Kirchner: "Vattern Leo war 30 Jahre lang Oberkrankenpfleger im AK. Später hat er seiner Nachbarin, der alten Frau Chrysander, im Garten geholfen."
Eine Grabreihe weiter werkelt Heinrich Lipinski an der Grabstätte seiner Frau Danuta, die mit 49 Jahren an Krebs starb. Das erzählt er mir. Und dass sie in der Reinigung beim Boberger Krankenhaus gearbeitet hat. Noch immer kämen Kolleginnen zum Friedhof, um Blumen zu bringen. Stolze acht Gestecke zählt er. "Und hier daneben liegt mein Vater Boleslaus. Er kam aus Pommern, war aber in der deutschen Armee", berichtet der 55-jährige Sohn. Das ist ihm irgendwie wichtig.
Manchmal verraten die Inschriften etwas. Zum Beispiel, dass Hans Steffen 1943 in Afrika starb. Oder dass Senatsrat Heinz Jaeger 1941 "vor Leningrad als Kompaniechef" fiel. Der hatte bestimmt einen dünnen Schnauz und einen stechenden Blick. Oder? Der könnte sicher auch gut neben Familie Hasenjäger liegen, die hetzende Jagdhunde in ihrem Wappen zeigt. Überhaupt: Tiere müssen es sein. Wohl nie werde ich herausfinden, warum Herr Kröger einen Elefanten auf seinem Stein hat - war er Tierpfleger? Ein vergammelter Weihnachts-Elch ist bei Kurt und Lia Zumbeck vergessen worden. Und ob Dr. Raimund Brozler wohl ahnte, dass einmal vier Vogelhäuschen seine Grabstätte schmücken werden?
"Ich war so lange nicht hier, ich hatte eine OP", sagt die Mittvierzigerin, die rauchend vor einem Grab steht. Wahrscheinlich habe ich sie etwas zu streng angeschaut. Was geht mich das auch an? Aber oft heißt es ja: "Was wohl die Leute denken!". Ja, muss man "die Leute" denn immer schonen? Letztens erfuhr ich, dass in Deutschland alle 47 Minuten ein Selbstmord begangen wird. Das ahnt man nicht beim Spaziergang über einen Friedhof. Solche Tatsachen finden nicht statt. Das ist unrühmlich. Denn: Das Leben ist schön - wenn man es aushalten kann.
Das erinnert mich an ein gut-bürgerliches Wohnzimmer, in dem sich vier Tanten versammelt hatten und auf mich einredeten. Ich musste die Todesanzeige für meinen Vater formulieren. Der Satz "Er wurde in Peru erschossen" wurde vehement abgelehnt. Zu ehrlich. Schließlich hieß es: "Er kam bei einem Überfall in Südamerika ums Leben." Bis heute ist mir nicht ganz klar, was das sollte - zumal die Lokalpresse eine halbe Seite über sein abenteuerliches Leben brachte.
Hab' ich da einen Igel im Laub rascheln hören? Ach ne, da sind Menschen hinter den Büschen. "Wir decken die Gräber mit Tannengrün ab", sagt Carmen Kunstein von den Alsterdorfer Gärtnern. Tatsächlich sind abgesehen von verwelkten Chrysanthemen kaum noch Farbkleckse auf dem Bergedorfer Friedhof zu sehen, alles wird abgeräumt. Bloß die Stechpalme bei Gerhard Mielke bleibt. Und der "Oberregierungsmedizinrat" Oppelt hat ein frisches, pinkfarbenes Alpenveilchen vor seinen Füßen. "Wir pflanzen jetzt gern die zartrosa Protea. Die kommt aus Afrika und sollte bis zum Frühjahr halten", erzählt mir Ines Ahlfeld vom Blumenpavillon Burmester. Auch Schneeheide und Christrosen seien hübsch, oder Tannenmuster, Moos-Tupfer und Gestecke aus Koniferen. Mein Lieblingsgrab hat wenig Blumen, es gehört Mario R. Dederichs, dem eine dicke rote Schleife um den Grabstein gewickelt wurde. Außerdem gibt es einen Handabdruck im Ziegelstein - sehr persönlich.
Aber man sollte nicht immer alles zu persönlich nehmen. Das fängt schon beim Namen an. Sofort habe ich einen dicklichen netten Mann vor Augen, wenn ich das Grab von Karl-Heinz Kuschel sehe. Und was mag Irma Kreisch mit ihrem Namen alles ertragen haben müssen? Schauen Sie noch mal nach oben: Strickstrock zu heißen ist auch nicht immer ein Segen. Aber hier in Bergedorf, da liegt sogar Jutta von Bültzingslöwen, geborene von Stülpnagel. Da reibt sich so mancher Meyer die Hände!
Nicht nur am Totensonntag wird an die Verstorbenen gedacht, da bin ich mir sicher. Beim Friedhofsspaziergang wird einem die eigene Endlichkeit knallhart bewusst. Wer von Euch hat eigentlich auch so viel geraucht wie ich? Ich denke auch an die Aids-Patienten, die ich im Hospiz sah, als ich mich zur Sterbegleiterin habe ausbilden lassen. Das war kurz bevor mein Baby auf die Welt kam.
Wenn jemand geboren wird, geht vielleicht auf der anderen Seite der Welt gerade ein Leben zu Ende. Dann erscheint ein neuer Stern am Himmel. Daran hat mein Opa immer fest geglaubt. Vielleicht trifft er jetzt im Himmel eine Frau mit frisch ondulierten Locken: Klara Nogossek wurde im November 2002 in Bergedorf begraben. Ihre Grabstätte liegt direkt neben der Sternwarte - schöne Aussichten, selbst im Tod.