Hamburg. Unsere Volontärinnen und Volontäre stellen sich und ihre ersten Erfahrungen in Hamburg vor. Heute: Elisabeth (Lili) Gefeller.
Ich bin in meinem Leben schon zehnmal umgezogen. Zehnmal habe ich meine zerfledderten Bücher in Kisten und meine Klamotten in Müllsäcke gepackt. Zehnmal habe ich meine Freunde und Familie mit billiger Pizza und noch billigerem Bier dazu genötigt, mir beim Transportieren und Tragen zu helfen. Zehnmal habe ich alles hinter mir gelassen, um mich irgendwo neu einzurichten. Neuer Start, neues Zimmer, neue Leute. Neues Leben?
Ob auf der Suche nach oder der Flucht vor etwas (oder mir selbst), ein neuer Umzug bedeutete für mich immer Freiheit. Die Freiheit, mich neu zu erfinden, Unbekanntes zu entdecken, die Gehirnzellen mit immer frischen Reizen auf Trab zu halten. Mit immer neuen Leuten und Gesprächen möglichst interessante Eindrücke zu gewinnen. Bloß nicht zu gemütlich, bloß nicht langweilig werden. Bloß nicht abhängig werden von einem Ort, einer Wohnung, von Glück versprechendem Eigentum. Bloß nicht zu viel Sicherheit, die einen mit ihren kantigen Krallen ins Tal des Spießbürgertums ziehen will.
Hamburg-Eimsbüttel: Hat mich der Stadtteil zur Spießerin gemacht?
Und jetzt? Jetzt wohne ich seit nun fast zwei Jahren im Heile-Welt-alles-wird-gut-Stadtteil Eimsbüttel. Seitdem ich 18 bin, habe ich zuvor in keiner Wohnung länger als sechs Monate gelebt. Ich stelle mich an Sonnabenden brav in die Warteschlange vor der „Kleinen Konditorei“, veranstalte Spieleabende mit Freunden und traue mich (fast) nicht, meinen Glasmüll an einem Sonntag zu entsorgen. Ich lese jeden Morgen das Hamburger Abendblatt (das muss ich jetzt sagen) und bekomme absolut die Krise, wenn mein Lieblingsfrischkäse (Kräuter-Bresso, vegan) bei „meinem“ Penny ausverkauft ist.
Ich habe „meinen“ Friseur gefunden, gehe regelmäßig zu Ärztinnen und Ärzten und bin auf der verzweifelten Suche nach einer Stammkneipe, bei der das Bier nicht zu teuer ist, es vorzugsweise einen Kicker gibt und dort nicht nur ältere Männer mit HSV-Kappe sitzen (gern her mit Tipps; und ja, St.-Pauli-Kappe wäre okay).
Ein bisher unbekanntes Gefühl: irgendwo ankommen
War’s das nun? Hat mich die muffige Langeweile eines vernünftigen Lebens verschleppt? Werde ich nun bald anfangen, Gen-Z-Gangster anzupöbeln, weil sie über eine rote Ampel gehen, oder Sätze wie „Früher war das noch anders“ von mir geben?
Nein. Ich glaube nicht. Ich hoffe nicht. Ich glaube, diese überhöhten Sorgen sind nur das rebellierende Ergebnis eines Sinneswandels, der langsam, aber sicher über mich ergeht: das Gefühl, irgendwo anzukommen. Irgendwo zu setteln – sowohl räumlich als auch innerlich. Welch ein schönes Gefühl. Ich muss wohl nur noch lernen, es zulassen zu können.
Zum ersten Mal seit Langem verspüre ich keine Fluchtinstinkte
Irgendwie hat es Hamburg geschafft, dass ich mich hier flauschig-warm wohlfühle, und dass Begriffe wie Sicherheit, Routine und Geborgenheit nicht mehr auf meiner schwarzen Anti-Spießer-Liste stehen. Im Gegenteil: Ich genieße es. Ich genieße es, nach einem trubeligen Wochenende bei Freunden in Frankfurt oder Berlin wieder in „meinem“ Hamburg anzukommen, mit vergleichsweise zum Abschlecken sauberen Straßen. Mit U-Bahnen, die pünktlich kommen. Mit Distanzen von A nach B, für die ich kein Reiseproviant brauche (Berlin-Köpenick nach Berlin-Spandau circa 1:45 Stunden mit dem Fahrrad).
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Und ich genieße es sogar, Freitagnacht mal nicht in einem der wenigen noch übrig gebliebenen Techno-Clubs (danke, Brosda) zu tanzen, sondern entspannt durch die ARD-Mediathek oder Netflix zu zappen. Hamburg erlaubt es mir, die Angst, ständig irgendwas zu verpassen (für die jüngeren Abendblatt-Lesenden: Fomo), abzulegen und mir stattdessen Ruhe zu gönnen. Sonnabendvormittag mal nicht verkatert aufwachen, herrlich! Meine sonst irgendwann einsetzenden Fluchtinstinkte bleiben aus. Hamburg, was hast du nur mit mir gemacht? Egal, was es ist: Danke!
Hamburg – ich möchte Danke sagen
Innerlich weiß ich: Solange ich mich selbst (und mein Lieblingskuscheltier und Seelenverwandter Känga, Grüße gehen raus!) dabeihabe, kann ich mich fast überall zurechtfinden. Aber egal was da noch kommen mag, ob mich die Quarterlife-Crisis für eine Zeit nach La Gomera führt oder ich Neapels ranzigem Charme für ein paar Jahre erliege: Es ist schön, einen Ort zu haben, an dem ich immer wieder ankommen kann. Einen sicheren Hafen. Einen Ort, bei dem ich mich freue, nach einer langen Reise zurückzukehren. Hamburg, danke, dass ich dich Zuhause nennen darf!