Nach dem Sieg der deutschen Nationalmannschaft über Argentinien gibt es auf dem Heiligengeistfeld kein Halten mehr. Der Regen ist egal, die Hamburger jubeln und weinen Tränen der Freude und des Glücks.
St. Pauli Spannender ging es nicht. Bis zur letzten Sekunde der regulären Spielzeit beteten die Fans in der Kia-Fanarena auf dem Heiligengeistfeld für den Schlusspfiff. Und in der Verlängerung ertönten ununterbrochen spitze Schreie aus der Menge. Aber es war keine Bewegung in der Menge. Aus Party-Krippe wurden bei diesem Finale echte Fussballfans. Es ist schier unerträglich, der Regen - niemand spürt ihn. Eine schier unerträgliche Spannung in der Luft, die sich dann endlich, um 23.25 Uhr mit dem Tor von Mario Goetze in einem kollektiven Aufschrei der 50.000 entlädt.
Bengalos Flammen auf, Sprechchöre für Super-Mario. Stossgebete werden zum Himmel geschickt. Die letzten zwei Minuten. Es ist nicht zum Aushalten. Messi, Sekunden vor Schluss, legt er sich den Ball zurecht. Ein Schrei aus 50.000 Kehlen. Drüber. Dann der Abpfiff, aus, aus, das Spiel ist aus. Nach 24 Jahren ist Deutschland wieder Fußballweltmeister, zum insgesamt vierten Mal.
In der Kia Fan-Arena auf dem Heiligengeistfeld brechen jetzt alle Dämme. Fahnenschwenken, verzückte Schreie, Kreischen, Küssen, Herzen, Umarmen, Tränen der Freude und des Glücks. Und natürlich das unverwüstliche Lied von dem "Tag, so wunderschön wie heute...", das in den zeitgemäßeren Sieger-Hymnen "We are the Champions" (Queen) und "Seven Nations Army" (White Stripes) allerdings ziemlich untergeht. Aus den gestammelten, gebrüllten, gestotterten Sprachfetzen der Menge sticht ein einziges deutlich Wort hervor: "Geil!" Der Regen ist jetzt vollkommen egal.
Aber die Fans wollen mehr. Sie wollen den Pokal, mit dem spätestens nach dem triumphalen 7:1 im Halbfinale über die Mannschaft des Gastgeberlandes Brasilien nun plötzlich jeder gerechnet hatte. Und sie wollen ihn jetzt. Philipp Lahm, der deutsche Mannschaftskapitän, tut ihnen den ersehnten Gefallen, als er ihn um 0.04 Uhr in die Höhe stemmt. Jetzt ist es offiziell. Wir sind Weltmeister! Noch einmal die totale Verzückung und grenzenloser Jubel, nicht wenige haben feuchte Augen, einige weinen sogar ungeniert.
Als dann die ersten längeren Interviews und Analysen, die zu diesem Zeitpunkt eigentlich niemand hören und sehen will, über die Großbildleinwand flimmern, macht sich ein großer Teil der 50.000 auf den kurzen Weg zum Epizentrum der WM-Freude: auf den Spielbudenplatz, auf die Reeperbahn, wo sie auf diejenigen zigtausend anderen treffen, die das Spiel in den Gaststätten oder zu Hause gesehen haben, und die jetzt auch nur noch eins wollen: Feiern bis der Arzt kommt. Für die nächsten Stunden bis zum Morgengrauen darf man sich jetzt als ein Volk fühlen, darf man Gewinner sein und stolz und glücklich die Sau rauslassen; einfach mal mitten in der Nacht die Autohupe zum Glühen bringen und das zugelassene Gesamtgewicht des Autos um ein Vielfaches überschreiten.
Gasbetriebene Signalhörner sorgen für taube Ohren der Umstehenden, auch Chinaböller fliegen und ein paar Silvesterraketen, die sich die ganz Schlauen für diese Sommernacht der Nächte zurückgelegt haben. Mitten drin im Tohuwabohu stehen Polizeibeamte, die zwar aufmerksam wirken, sich aber ansonsten stur an die Devise der Einsatzleitung halten: "Wir sehen uns das ganz gelassen an und lassen die Menschen feiern!" 1990 war das noch anders: Da wurden die Reeperbahn, die Ordnungskräfte von der Spontanparty nach dem Titelgewinn kalt erwischt. Harmlose Fans und Hooligans vermischten sich zu einer unheilvollen Melange, und als dieser Sturm vorüber war, lag einiges in Scherben.
Am Millerntor, auf dem Spielbudenplatz und auf der "Meile" geht 24 Jahre später, eine knappe Stunde nach dem Abpfiff ebenfalls nichts mehr. Aber es ist friedlich. Die Luft dampft, Bierbecher aus Plastik fliegen - das gehört dazu. Die Menge wogt hin und her, die Solidaritätstrikots sind durchgeschwitzt, die schwarz-rot-goldene Fanschminke auf den Wangen verschmiert und verleiht so manchem Fan das Aussehen eines Zombies.
Je weiter man sich durch die Nebenstraßen von Reeperbahn und Spielbudenplatz entfernt, desto trunkener und intimer wird die kollektive Freude über den Titelgewinn ausgelebt. Denn hier haben die durstigen Fans wenigstens eine reelle Chance, in den Schankräumen und Bars Getränke zu bekommen. Geld spielt keine Rolle. Und hier trifft man auch vereinzelte St. Paulianer, die von dieser bierseligen Ausgelassenheit eine ganz andere Meinung haben, weil sie den ganzen "Nationalismus" (falsch), den "Patriotismus" (fast richtig), den "Party-Patriosmus" (richtig) und das dazugehörende "Fahnen- und Deutschland-Gedöns" schon immer strikt abgelehnt haben und nun demonstrativ so tun, als gehörten sie nicht dazu. Aber vielleicht freuen sie sich doch. Ein bisschen. Wenn auch nur klammheimlich.