Hamburg. Der SPD-Politiker kämpft für den Anstand und um ein neues Mandat – trotz gesundheitlicher Probleme.

Manche behaupten ja, seine Stimme werde von Jahr zu Jahr noch tiefer – obwohl das vermutlich unter den geltenden Naturgesetzen gar nicht mehr möglich ist. Natürlich hat der bärige Brummbass etwas mit den Kippen zu tun: Knut Fleckenstein raucht seit Jahrzehnten. 30, 40, wer weiß schon genau wie viele Marlboro am Tag. Es schmecke ihm, sagt er, aber die Lunge ächzt und rasselt natürlich, das gibt er zu.

Dabei ist das nicht das einzige Handicap, unter dem der Hamburger SPD-Europaabgeordnete, der sich bei der Europawahl am 26. Mai um ein neues Mandat bewirbt, im Wahlkampf zu leiden hat. Schlimmer ist die Augenentzündung. Vor einer Weile musste sich der 65-Jährige am linken Auge operieren lassen, nichts Ernstes, wie er betont, aber nun ist es wochenlang komplett zugeschwollen. Immerhin kann er darüber selber ganz gut Witze machen.

Witze über Sozis

„Man sagt uns Sozis ja nach, wir seien auf dem linken Auge blind“, sagt er jetzt gerne bei seinen Veranstaltungen. „Bei mir stimmt es sogar.“ An diesem Abend im altehrwürdigen Brauhaus Gröninger könnte das gut passen, schließlich treffen sich hier auf Einladung des Inhabers Jens Stacklies und des Gaststättenverbandes Dehoga Dutzende erfolgreiche Unternehmer, da kommen Witze über Sozis vielleicht ganz gut.

Eugen Block ist da, Albert Darboven, Messechef Bernd Aufderheide und Ex-Hamburg-Marketing-Chef Dietrich von Albedyll. Fleckenstein hat an diesem Abend zwei Aufgaben: Als Ehrengast eine Rede zu halten. Und den Maibock anzustechen, was ja durchaus mal ins Auge gehen kann, aber das ist in diesem speziellen Fall vielleicht nicht das passende Bild.

Er kämpft gegen die EU-Feinde

In seiner Rede warnt Knut Fleckenstein dringend davor, man solle doch bitte mit Blick auf Europa nicht „das Kind mit dem Bade ausschütten“. Ja, es laufe nicht alles optimal, aber wählen müsse man trotzdem. Europa sei nämlich erstens ein Friedensprojekt, sichere zweitens Wohlstand und sorge drittens für hohe einheitliche Standards bei Umwelt, Sozialem und Arbeit.

20 Prozent der Abgeordneten in Brüssel seien nur dort, weil sie die EU abwickeln wollten. Diese Leute verschöben die Grenzen des Anstands immer weiter, sie sagten längst offen, was sie wollten, nämlich „Frauen an den Herd, Schwarze nach Afrika, Zigeuner in den Knast und die Türken besiegen“, so Fleckenstein. Leute, für die die Nazizeit ein „Vogelschiss der Geschichte ist, die sind aber nicht meine Vertreter“, ruft er, und da gibt es zum ersten Mal richtigen Applaus. Auch deswegen müsse man wählen, damit die nicht immer stärker würden.

Als Überleitung zu seiner zweiten Aufgabe macht Fleckenstein einen Witz auf Kosten von Politikern. Die Stadt sei ja wegen der Bezirksversammlungswahlen gerade zuplakatiert, da sei es doch gut, dass jetzt auch Maibockzeit sei. Weil: „Nach zwei, drei davon sehen die auf den Plakaten alle gar nicht mehr so hässlich aus.“

Gewerkschafter meckern viel über Europa

Sagt es, greift unter dem kritischen Blick des Gröninger-Chefs zu Hammer und Zapfhahn und trifft sofort optimal. Es gibt kein Malheur und kein Gespritze, wie er es befürchtet hatte, sondern das Bier fließt genau dort aus dem angestochenen Maibock-Fass, wo es soll. Natürlich probiert er eins.

Nicht alles läuft so geschmiert in diesem Wahlkampf. Erst am Nachmittag zuvor hatte sich Fleckenstein, der nun schon seit 2009 für die SPD im Europaparlament sitzt, in der Motte in Altona viele kritische Fragen und vorwurfsvolle Co-Referate von IG Metallern anhören müssen – und dabei am Ende ein wenig die Geduld verloren.

Dieses Europa hätten „die Völker so nie gewählt“, sagt da einer der zwei Dutzend fast ausschließlich älteren Männer, die rund um einen Tisch sitzen. So ein Chaos wie beim Brexit sei „in der Betriebsarbeit undenkbar, da wäre jedes Unternehmen kaputt“. Es werden Waffenexporte in den Jemen kritisiert, die Flüchtlingspolitik, die hohe Nitratbelastung der Böden, der Lissabon-Vertrag, die fehlende Demokratie und dann auch noch Hartz IV, als sei das eine EU-Erfindung.

Meist duzt Fleckenstein die Metaller

Die EU sei ja nun wirklich nicht für alles verantwortlich, brummt Fleckenstein merklich genervt. Bei manchen Themen gebe es das Problem, dass die Staaten Verantwortung nicht an die EU delegierten, um dort gemeinsame Lösungen zu finden. Eines aber sehe auch er: Die EU sei zu schnell zu groß geworden. „Wir zahlen einen bitteren Preis dafür, dass wir die früheren Warschauer Pakt-Staaten so schnell aufgenommen haben“, konstatiert Fleckenstein und beruft sich dabei auf Helmut Schmidt.

Auch hier erzählt der langjährige Chef des Arbeitersamariter-Bunds in Hamburg und Vater zweier Töchter, dass die Vogelschiss-AfD einen doch wohl nicht vertreten könne und dass viele in Brüssel die EU nur abwracken wollten. Dabei habe man doch auch für Arbeitnehmer viel erreicht, die Hafenregelungen des Port Package oder die für Bodenpersonal an Flughäfen zum Beispiel. Außerdem komme man allein nicht gegen China an, auch dafür brauche man die EU.

Meist duzt Fleckenstein die Metaller bei seinen Antworten. Bis einer sagt: „Duzen ist möglich, wenn wir Gewerkschaftsmitglieder sind.“ Fleckenstein nuschelt ein „war ich mal“ vor sich hin – und geht dann doch wieder zum Sie über.

Listenplatz gilt keineswegs als sicher

Das Werben für Europa und die Reden gegen Populisten sind in diesem Wahlkampf wohl die leichtere Übung. Schwieriger wird es, wenn man fragt, was die SPD denn von anderen proeuropäischen Parteien unterscheide, von der CDU etwa. Fleckenstein nennt die Forderung nach einem europäischen Mindestlohn, die sei ein originär sozialdemokratisches Thema. Außerdem müssten „Amazon und Google endlich Steuern zahlen wie der Schlachter an der Ecke“ – auch wenn sein Hamburger Genosse und Bundesfinanzminister Olaf Scholz da gerade etwas auf anderer Ebene versuche. Mit einer Arbeitslosenrückversicherung müsse man außerdem den Ländern helfen, in denen die Belastungen zu hoch würden, findet der gelernte Bankkaufmann Fleckenstein. Schließlich sei es doch wohl „besser für die Menschen zu zahlen als für Rüstungsfirmen und Banken“.

Ob das am Ende alles reicht, um noch einmal für fünf Jahre ein Mandat zu erlangen? Das sei völlig offen, sagt Fleckenstein. Er stehe auf Platz 18 der SPD-Bundesliste und je nach aktueller Umfrage sei er „einmal drin und einmal draußen“. Umso mehr muss er nun kämpfen in den verbleibenden Wochen. Viel erhofft er sich von seiner größten Veranstaltung am 17. Mai in der Fabrik. Dafür konnte er den luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn gewinnen, außerdem Bürgermeister Peter Tschentscher und Martin Schulz, Ex-SPD-Chef, Ex-Kanzlerkandidat und Ex-Präsident des Europaparlaments. Dass Schulz komme, freue ihn besonders, sagt Fleckenstein und zündet sich an diesem sonnigen Abend vor dem Gröninger die mindestens dritte Zigarette binnen 20 Minuten an. Der Martin stehe für Anstand. Und dafür, dass man sich Europa nicht kaputt machen lasse.

Und worum sollte es bei dieser Wahl denn sonst gehen?

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