Hamburg. Besonderheiten von Geschwister-Konstellationen, warum gestritten werden sollte und wie Bindung entstehen kann.

Es war der blaue Legostein, der dafür sorgte, dass Türen geknallt wurden, Schimpfworte durch die Luft flogen, Tränen flossen. Oder war es der Sitzplatz am Fenster, auf dem beide im Bus sitzen wollten? Oder war es das vermeintlich kleinere Stück Kuchen, die Kiwi-Hälfte, die weniger schwarze Punkte hatte?

Eigentlich ist es auch schon fast egal, was die Auslöser für Geschwisterstreitigkeiten sind, fast alle Eltern kennen die emotional geladenen Auseinandersetzungen von den eigenen Kindern oder Zoff aus der eigenen Kindheit. „Streiten zwischen Geschwistern ist eine ganz wichtige Sache, denn die können sich auf geschütztem Terrain ausprobieren und testen, ohne dass sie Angst haben müssen, dass der andere sie verlässt“, sagt Frauke Ludwig.

Streit um die Aufmerksamkeit der Eltern

Die Familien-Expertin der Trageschule Hamburg, die auch Kurse zum Thema Geschwisterkonstellationen gibt, erzählt in unserem Podcast „Morgens Zirkus, abends Theater“ von der Einzigartigkeit, Geschwister zu haben und mit und an ihnen zu wachsen. Durch diese Auseinandersetzungen könne sich schon früh eine Streitkultur entwickeln, meint sie.

Tröstlich für geplagte Eltern, die auf mehr Harmonie unter den eigenen Sprösslingen hoffen. „Man erlebt als Kind, dass nach einem Gewitter wieder Sonnenschein kommt. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass solche Situationen stärken und resilienter machen, da es eben von frühester Kindheit gelernt wurde.“ Zumeist geht es allerdings sowieso nur vordergründig um das besagte größere Stück vom Kuchen, dahinter steht zumeist der Streit um die Aufmerksamkeit der Eltern.

 Es komme immer auf die kognitive Reife der Kinder an

Einen Peak erlangt dieser, wenn sich ein Baby ankündigt, die Familie also Zuwachs bekommt. Egal, wie viele Kinder schon da sind, es wird eine Ausnahmesituation geben. „Im Endeffekt ist es der erste große Liebeskummer, ein Liebesabbruch. Man hatte bis jetzt die ungeteilte Aufmerksamkeit und jetzt kommt jemand dazu, der noch nicht mal unsere Sprache spricht“, sagt Frauke Ludwig.

 Es komme immer auf die kognitive Reife der Kinder an, sind sie über sieben Jahre alt, kann man schon auf den „Verstand online“ setzen. Vorher – bei Zwei- oder Dreijährigen, die sich gerade selbst finden und fast noch die gleichen Bedürfnisse haben wie ein Baby, gehe es viel mehr über Gefühle. Denn auf Vernunft zu setzten, das klappe dann noch nicht.

Aggression gegen die Eltern dienen oftmals als Kanal für die Wut und Eifersucht

Ludwig, selbst Mutter zweier Mädchen mit einem Altersunterschied von mehr als vier Jahren, erinnert sich an die erste Zeit mit zwei Kindern, als nicht alles rundlief und es für sie als Mutter schwer war, die Liebe zu verteilen und nicht ungerecht zu sein. „Ich bin der Meinung, dass man diesen Prozess begleiten sollte. Ich habe mit dem größeren Geschwisterchen schon in der Schwangerschaft Videos und Bilder gezeigt, wie ich sie in der Trage immer geschleppt habe. Und dann habe ich erklärt, dass ich das nun auch mit dem Säugling machen werde.“

Wichtig sei zu verbalisieren, dass man als Elternteil gern Zeit mit dem Älteren oder den Älteren verbringen würde, aber es gerade wegen des neuen Babys leider nicht ginge. Mama treten, Puppe zerhacken oder Wände anmalen – Aggression gegen die Eltern dienen oftmals als Kanal für die Wut und Eifersucht. So bekommen die Größeren Beachtung - auch, wenn es negative Aufmerksamkeit sei.

 „Solange was fehlt, wird darum gekämpft“

„Hauptsache gesehen werden, die Aufmerksamkeit haben“, erklärt Ludwig. „Nicht-Beachtung ist das Schlimmste, was man mit Kindern machen kann.“ Was hilft aber dagegen? „Dass man dem Kind in einer Tour zeigt, ich liebe dich noch genauso wie vorher, auch, wenn du beißt und trittst.“ Und exklusive Zeit allein. Es müsse nicht der Besuch im Freizeitpark sein, auch das gemeinsame Lesen sei ausreichend. Nähe tanken, Vertrauen stärken.

 „Solange was fehlt, wird darum gekämpft – klares Säugetierverhalten“, sagt Ludwig. „Wenn man die Kinder mit Liebe und Aufmerksamkeit überschüttet, dann geht es denen einfach besser, dann sind die satt und müssen nicht darum kämpfen. Und die Aggressionen nehmen ab.“

Eltern sind oft selbst ausgelaugt

Was sich sinnvoll und umsetzbar anhört, erweist sich im Familienalltag jedoch manchmal als zu selten durchsetzbar, die Eltern sind selbst ausgelaugt, müde und voller Emotionen in dieser neuen Situation. „Wenn die eigene Empathie jedoch auch mal nicht ausreicht und man meckert oder selbst motzig ist – auch das verbalisieren. Ich sage dann auch, ,oh, das tut mir so leid, mein Akku ist auch gerade ganz leer‘.“

Vier bis fünf Jahre habe es in ihrer Familie gedauert, bis die beiden Mädchen etwas miteinander anfangen konnten. Langsam schleiche sich auch das immerwährende Buhlen um die Liebe und Aufmerksamkeit ein, aber „unsere Kinder sind nicht gleich best friends, nur weil sie Geschwister sind“, weiß Ludwig. „Man kann da nichts erzwingen, immer Bullerbü geht nicht.“

Kinder nicht in Rollen zu zwingen, kann schon helfen

Die Kinder nicht zu vergleichen, nicht in Rollen zu zwingen, das kann aber schon helfen. Deshalb sei es immens wichtig, nicht zu kategorisieren à la „der durchsetzungsstarke Erstgeborene“, „das auf sich fixierte Einzelkind“, „das bedürftige Nesthäkchen“ oder das bekannte „Sandwichkind“. Alles lassen, findet Ludwig. „Es ist viel wichtiger zu gucken, was habe ich hier für ein Gemüt? Was habe ich hier für einen Menschen?

Und der soll so begleitet werden, wie er ist.“ Denn vielleicht ist das Zweitgeborene die Rampensau und wäre eher an erster Stelle gewesen, ebenso kann das erste Kind schüchtern sein. Die Kinder gerade nicht zu beschreiben oder zu bezeichnen, damit tue man einen Gefallen. Das gelte auch für Einzelkinder, Pauschalisierungen passten auch hier nicht.

„Wenn man etwas immer wieder hört, dann geht das ins Unterbewusstsein über“

„Wenn man etwas immer wieder hört, dann geht das ins Unterbewusstsein über und es wird zu dieser Person“, sagt Ludwig. Eine Hilfe, diese schwierige Nicht-Benennung im Alltag zu erlernen ist, mehr Prozesse zu beschreiben, zu sagen, was man am eigenen Kind sieht und nicht sofort einzuordnen.

 Ein Beispiel: Das präsentierte, jüngst gemalte Bild ist nicht einfach „klasse“, gestaltet vom „Superkünstler“; besser ist eine Reaktion wie: „Ich sehe, dass du viele Farben ausgesucht hast, ich kann mir vorstellen, dass das lange gedauert hat.“ Noch mehr Kniffe von Frauke Ludwig, wie man mehr Ruhe in den Alltag mit Geschwisterkindern bringen kann, wie die Lage in Patchwork-Familien ist und was eine Bindung der Geschwister fördern kann, gibt es im Podcast zu hören.