Hamburg. Ein ungenügend gefüllter Doppelbodentank riss 39 Menschen in den Tod. Über eine Katastrophe, die hätte anders enden können.
Wer unvorbereitet über den Ohlsdorfer Friedhof schlendert, übersieht das schlammfarbene, verwitterte Grabmal in der Nähe der Rotbuchenallee leicht. Doch auf der Homepage des Förderkreises wird es gewürdigt und erläutert. Die mächtige „Breitstele“ im Stil der Grabmalreform der 1920er-Jahre ist aus Sandstein gefertigt, die Inschrift lautet in spanischer und deutscher Sprache: „Hier ruhen 26 brasilianische Mannschaften und 7 deutsche Arbeiter, welche am 16. Juni 1922 beim Untergang des brasilianischen Dampfers Avaré im Hamburger Hafen als Opfer ihres Berufes in treuer Pflichterfüllung den Tod erlitten haben.“ Das Grabmal erinnert damit an ein hoch dramatisches Schiffsunglück, das sich aber ungewöhnlicherweise nicht auf See ereignete, sondern an einem sonnigen Junitag vor 100 Jahre in unmittelbarer Nähe zum Land.
Dass der Dampfer, der eine Stammbesatzung von rund 160 Mann hatte, 1922 zur Generalüberholung nach Hamburg kam, entsprach beinahe einer Heimkehr. Denn er war 1912 als „Sierra Salvada“ für den Norddeutschen Lloyd erbaut worden und in Bremen vom Stapel gelaufen. Während des Ersten Weltkriegs beschlagnahmte die brasilianische Regierung das 8227 Bruttoregistertonnen große sogenannte Kombischiff, das ihr dann nach der deutschen Niederlage ganz zugesprochen wurde. Und wie die Zeitenläufe nun mal so sind: Wenige Jahre später unternahm das mittlerweile auf den Namen „Avaré“ getaufte Schiff wieder Passagierfahrten Richtung Norddeutschland.
Als Dampfer „Avaré“ im Hamburger Hafen versank
Die Überholung in Hamburg endete am 16. Juni gegen 10.45 Uhr beim Ausdocken aus Dock III der Vulkanwerft dann mit einem Desaster. Helmut Schoenfeld, der die Unglücksfälle im Hafen für den Ohlsdorfer Förderkreis recherchiert hat, schreibt: „Vier Schlepper hatten das brasilianische Schiff rückwärts aus dem Dock verholt. Es neigte sich sogleich stark nach Backbord, wobei die offenen Bullaugen bereits Wasser übernahmen, richtete sich kurz wieder auf, krängte hinüber nach Steuerbord und kam dabei schließlich zum Kentern.“
Mehr als 100 Seeleute und Arbeiter konnten aus der Elbe gerettet werden oder selbstständig an Land gelangen, doch für 39 Menschen kam jede Hilfe zu spät. Neben den später auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestatteten 26 Brasilianern kamen insgesamt 13 deutsche Werftarbeiter zu Tode, wobei sechs dann andernorts ihre letzte Ruhe fanden.
Beseitigung des Wracks sehr kompliziert
Als Ursache für das Unglück stellte das Seeamt später die ungenügende Auffüllung des Doppelbodentanks fest. „Die frei beweglichen Wassermassen gerieten beim Andrehen der Schlepper in Bewegung und brachten das Schiff zum Kentern“, berichtete viele Jahre später der „Hamburger Anzeiger“ anlässlich eines Gedenkgottesdienstes auf dem Friedhof, an dem auch zahlreiche brasilianische Seeleute teilnahmen.
Wie Jan Mordhorst in dem Buch „150 Jahre Bugsier“ schreibt, lag die „Avaré“ danach in neun Metern Wassertiefe mitten im Ellerholzhafen auf der Steuerbordseite, während die Backbordseite je nach Tidenstand einige Meter aus dem Wasser ragte. Die Zeit drängte, das Schiff zu bergen, denn dieser Hafenteil wurde damals stark genutzt und die plötzliche Blockade kostete Unsummen. Die Beseitigung des Wracks mit den damaligen Möglichkeiten gestaltete sich dann ungeheuer kompliziert und aufwendig, zumal das 140 Meter lange Schiff zunächst erst einmal wieder in die Horizontale gebracht werden musste.
In der Bibliothek des renommierten Vereins für Hamburgische Geschichte wird dazu ein ungewöhnliches Zeitzeugnis verwahrt: ein Fotoalbum mit gestochen scharfen Aufnahmen, auf denen die Bergung festgehalten ist. Die zur Vorlage beim Seefahrtsamt erstellte Dokumentation besteht aus einer Mappe mit 24 Originalfotografien und wurde im Auftrag der Bugsier Bergungs- und Rettungsgesellschaft von dem Hamburger Fotografen Otto Reich erstellt.
Das Unternehmen, größter Schleppbetrieb Hamburgs, war 1866 unter der Bezeichnung „Vereinigte Bugsier-Dampfschiffgesellschaft“ gegründet worden. Die Beschreibung des Verfahrens hat Jan Mordhorst ausführlich beschrieben – hier eine vereinfachte Kurzfassung: Am gegenüberliegenden Kai wurden 132 Holzpfähle neun Meter tief in den Boden gerammt, die Halt für 22 schwere Dampfwinden boten. Deren Zugseile und Flaschenzüge führten zur „Avaré“. Auf der himmelwärts weisenden Bordwand des Schiffs waren zuvor Hebeböcke montiert worden, um die nötige Hebelwirkung zu erzielen. Schwimmkräne und Hebefahrzeuge unterstützten die Zugkraft der Winden, sodass insgesamt rund 1320 Tonnen aufgewendet werden konnten.
Auch interessant
Auch interessant
Auch interessant
Etliche aufwendige Tauchgänge waren zunächst nötig, um das Wrack unter Wasser von Teilen seiner völlig verrutschten Inneneinrichtung zu befreien. Außerdem musste unterhalb des Schiffs eine Rinne ausgebaggert werden, in die es nach dem langsamen Aufrichten, so die Planung, hineingleiten würde.
Am 16. August um 9.10 Uhr zogen die Dampfwinden langsam an, während zwei Hebedampfer auf der anderen Schiffsseite gleichzeitig mit dem Hieven begannen. Im Zeitlupentempo erhob sich die „Avaré“ – und wie geplant rutschte sie in die stabilisierende Rinne. Schließlich löste sich das schwer angeschlagene Schiff ganz aus seinem Schlickbett, sodass es schließlich von Schleppern abtransportiert werden konnte. So endete die laut Jan Mordhorst „größte Schiffsbergung im Hamburger Hafen aller Zeiten“.
Aus „Avaré“ wirddas Kreuzfahrtschiff „Peer Gynt“
Das Ende der „Avaré“ ist schnell erzählt: Die brasilianische Reederei verlor bald das Interesse an dem Wrack und veräußerte es bereits 1923 an den Reeder Viktor Schuppe, der es reparieren und umbauen ließ. Unter dem Namen „Peer Gynt“ war es bis 1926 als Kreuzfahrtschiff unterwegs, bevor es nach Italien verkauft wurde und als „Neptunia“ zahlende Gäste beförderte.
Schon 1927 erwarb die Hapag den Dampfer, der danach als „Oceana“ wieder unter deutscher Flagge im Einsatz war – unter anderem während der Nazi-Zeit jahrelang als „Kraft-durch-Freude“-Schiff der Deutschen Arbeitsfront. 1946 musste die „Oceana“ an die Sowjetunion abgegeben werden, wo sie als Truppentransporter eingesetzt wurde – nun unter dem Namen „Sibir“. 1963 kam dann das endgültige Aus: Am Ende stand die Verschrottung des wahrlich geschichtsträchtige Dampfers, dessen Schicksal Hamburg einst monatelang beschäftigt hatte.