Hamburg. Entschlüsselung der Chatsoftware erlaubt tiefen Einblick das organisierte Verbrechen – allein in Hamburg mehr als 300 Strafverfahren.

Nie gab es so tiefe Einblicke in die Organisierte Kriminalität, nie einen besseren Gradmesser für den Umfang des Drogenhandels auch in Hamburg. Mit den Ermittlungen der Soko „HHammer“, die systematisch das von französischen Ermittlungsbehörden geknackten EncroChat-Netzwerk durchforstete, über das Tätergruppen vermeintlich gut verschlüsselt ungeniert ihre kriminellen Geschäfte abwickelten. Allein in Hamburg führte das bislang zu 331 Strafverfahren und der Vollstreckung von 235 Haftbefehlen.

„Mit der Entschlüsselung des Kryptodienstes wurde Kriminalgeschichte geschrieben“, sagt Polizeisprecher Holger Vehren. „Sie ist eine Erfolgsgeschichte durch und durch und hat uns nie da gewesene Einblicke in die Organisierte Kriminalität ermöglicht.“ Die Erkenntnisse haben die Maßstäbe verschoben.

EncroChat zeigt Dimension des Drogenhandels

Ein Beispiel: Der ehemalige HSV-Profi Mustafa Kucukovic. Er wurde im Februar 2022 zu viereinhalb Jahren Haft wegen Handels mit nicht geringen Mengen Drogen verurteilt. Verhaftet worden war er zusammen mit einem Komplizen. Der Ex-Fußballprofi, der 2004 bis 2007 beim HSV war, hatte selbst mehr als 100 Kilo Marihuana aus den Niederlanden nach Hamburg geschafft. Ein Verkauf von 50 Kilo Kokain konnte ihm später vor Gericht nicht nachgewiesen werden.

Dabei war er, verglichen mit den anderen wegen EncroChat aufgeflogenen Dealern, kein besonders dicker Fisch. „Es ist eine nicht für möglich gehaltene Dimension des Drogenhandels, die sich durch EncroChat aufgetan hat“, sagt Thomas Jungfer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Tatsächlich bilden die EncroChat-Protokolle, die die Hamburger Polizei bekam, nur einen kleinen Zeitraum von drei Monaten ab. In dieser Zeit hatten französische Behörden die Kommunikation sichern können, die über 66.134 SIM-Karten abgewickelt wurde.

Beschlagnahmtes Vermögen in Millionenhöhe

Dahinter, so ergaben weitere Ermittlungen, steckten mehr als 32.000 Nutzer aus 121 Ländern, von denen etwa 60 Prozent die verschlüsselte Kommunikationsplattform hauptsächlich für die Abwicklung krimineller Geschäfte nutzten. Der Kommunikationskanal der Unterwelt wurde abrupt am 28. Juni 2020 vom Betreiber abgeschaltet, nachdem bekannt wurde, dass die Verschlüsselung von der Polizei geknackt worden war. In Deutschland stellte sich Hamburg als einer der Orte heraus, in denen EncroChat-Nutzer besonders aktiv waren.

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Deshalb wurde die Soko „HHammmer“ gegründet, die an die Abteilung Organisierte Kriminalität angebunden ist. Im Juni vergangenen Jahres stockte der Senat wegen des Umfangs der Ermittlungen Polizei und Justiz auf. „Durch die gesicherten Chats haben wir Hinweise auf die Größenordnung der im Umlauf befindlichen Mengen an Rauschgift und die dadurch erzielten Gewinne erhalten“, so Polizeisprecher Vehren. „Das in den bislang in Hamburg geführten EncroChat-Verfahren beschlagnahmte Vermögen geht in die Millionen“.

Trotz hunderter Haftbefehle – nur ein Kratzen an Oberfläche

Und Jungfer sagt: „Man muss sich aber vor Augen führen, dass wir mit der Soko HHammer nur einen kleinen Einblick in die Dealerszene haben. Trotz aller Sicherstellung und der Zerschlagung von ganzen Tätergruppierungen, ist es nie zu einem Engpass bei Drogen oder zu signifikanten Preissteigerungen gekommen. Das lässt den Schluss zu, dass wir, bei allen herausragenden Erfolgen, lediglich an der Oberfläche kratzen.“ Das sieht Vehren ähnlich: „Die Zahl der bereits vom Markt genommenen mutmaßlichen Dealer ist wirklich beachtlich. Klar ist aber auch, wir sind noch lange nicht am Ende.“

Was Jungfer wurmt: „Ohne Frankreich wären diese Ermittlungen nicht möglich gewesen. In Deutschland haben wir zu hohe rechtliche Hürden, die nicht zulassen, dass wir wie die Franzosen in solche von Kriminellen genutzten Kommunikationssysteme eindringen. Man kann nur hoffen, dass die Erkenntnisse aus dem Verfahren zu einem Umdenken führen.“

EncroChat belegt auch Waffenhandel im großen Stil

EncroChat hat nicht nur belegt, dass mit Drogen, sondern im großen Stil auch mit Waffen gehandelt wird. Immer wieder wurden Tätern Waffenverkäufe, zumeist Pistolen, aber auch Maschinenpistolen, zugeordnet. Wozu die Täter die brauchen, zeigte sich im Frühjahr 2020. Damals kam es in der Fischbeker Heide zu einer Schießerei, bei der ein 28 Jahre alter Libanese durch Schüsse in das Bein verletzt wurde.

Die Polizei ermittelte, dass es eine Bestrafungsaktion gewesen war, weil der Mann aus der riesigen Menge von 1,8 Tonnen Kokain, das die Bande nach Hamburg schmuggelte, etwas Rauschgift abgezwackt hatte, um es auf eigene Rechnung zu verkaufen. Nach der Schießerei führte die Polizei im Dezember 2020 eine Razzia durch, bei der 15 Haftbefehle vollstreckt wurden. Ein Täter, Nadar H., wurde erst im Januar dieses Jahres in Ungarn aufgespürt und verhaftet.