Wissenschaft trifft Wirklichkeit: Chefredakteur Lars Haider spricht mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über die großen Themen unserer Zeit.
Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen sprechen in „Wie jetzt?“, einem Gemeinschaftsprojekt von Abendblatt und Universität Hamburg, über Fragen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Diesmal geht es um die Pandemie, Naturkatastrophen und Auslandseinsätze wie jenem in Afghanistan, wo der Staat die Kontrolle verloren zu haben scheint. Woran liegt das?
Lars Haider: Die „Bild“-Zeitung nannte die Bundesregierung um Angela Merkel vor Kurzem die „Immer-zu-spät-Regierung“. Sie wollte damit das Gefühl beschreiben, um das es in den vergangenen Wochen in vielen Gesprächen ging, die ich geführt habe, und die meist in einer Frage endeten: Hat der Staat, hat unser Staat die Lage noch im Griff, Stichworte: Corona-Pandemie, Unwetterkatastrophen, Afghanistan?
Dieter Lenzen: Wichtig ist zunächst einmal festzuhalten, dass es nicht um die Frage geht, ob einzelne Politiker die Lage im Griff haben, sondern der Staat als ganzer. Man spricht in diesem Zusammenhang, nicht nur in Deutschland, davon, dass die Lebensverhältnisse sich so geändert haben, dass die Dinge gar nicht mehr ohne Weiteres in den Griff zu bekommen sind. Die Formel dazu heißt Vuca-World. Das V steht für Volatility, Volatilität, das heißt, in unserer Welt ist kaum noch etwas exakt vorhersagbar. U steht für Uncertainty, weil unsere Sicherheit verloren gegangen ist, C für Complexity, also für die beschriebene Komplexität, und A für Ambiguity, das heißt, man hat ein nicht klares Verhältnis zu den Dingen. Das Entscheidende ist aus meiner Sicht die Komplexitätssteigerung. Unsere Welt ist so kompliziert geworden, dass einzelne Politiker damit völlig überfordert sind, manchmal sogar ganze Behörden. Darüber müssen wir uns unterhalten.
Wenn wir das aber fest- und gleichzeitig die Frage stellen, ob vielleicht sogar ganze Staaten mit dieser Komplexität überfordert sind – was heißt das?
Wir müssen uns überlegen, wodurch das passiert ist. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist das, was wir als Globalisierung bezeichnen. Durch sie ist die Zahl der Elemente, die wir bei Entscheidungen bedenken müssen, exponentiell gestiegen, weil alles auf jeden Einfluss hat. Früher war es für Deutschland egal, was in China passiert. Heute kann das für uns, siehe Corona, schnell extrem relevant werden. Wir müssen uns also überlegen, wie wir mit der Globalisierung umgehen. Drehen wir da ein Stück zurück? Müssen wir Aufgaben unter den Staaten aufteilen? Wie bekommen wir einen Weltdialog hin, der funktioniert?
In einigen Ländern hat die Globalisierung nationale und nationalistische Entwicklungen ausgelöst, die angesichts dessen, was Sie beschreiben, auf jeden Fall kontraproduktiv sind. Denn man kann sich schlicht nicht mehr auf die eigene Nation konzentrieren, weil die weltweiten Abhängigkeiten viel zu groß sind, ob einem das jetzt gefällt oder nicht. Einfaches Beispiel: Es würde uns wenig helfen, in Deutschland alle Menschen gegen Corona zu impfen, wenn das nicht auch möglichst zügig im Rest der Welt passiert.
Es gibt einen berühmten Soziologen, Norbert Elias, der Anfang der 40er-Jahre ein Buch geschrieben hat, in dem er vorhergesagt hat, dass angesichts der nicht aufzuhaltenden Europäisierung und Globalisierung neue Regionalismen entstehen werden, die die Menschen brauchen, um nicht den Halt in einer unübersichtlichen Welt zu verlieren. Genau das sehen wir jetzt. Die Sehnsucht nach der Nation ist ein Produkt der Unübersichtlichkeit im globalen Maßstab.
Und wenn die Unübersichtlichkeit sehr groß wird, zum Beispiel zu Beginn der Pandemie, kann sie dazu führen, dass es selbst Abgrenzungsbemühungen und Animositäten zwischen einzelnen Bundesländern gibt. Denken wir an die „Grenzkontrollen“ und Abschottungen zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein.
Das ist ein extremes, aber trotzdem gutes Beispiel. Die Frage ist, ob wir eine Organisation hinbekommen, die beides kann. Wir brauchen auf der einen Seite gemeinsame Regeln und Institutionen für die ganze Welt, und auf der anderen Seite Möglichkeiten, sich mit bestimmten, enger gefassten Gruppen identifizieren zu können.
Wenn wir auf die Ausgangsfrage zurückkommen, dann muss man die deutsche Regierung vielleicht sogar in Schutz nehmen. Sie kann nichts dafür, wenn sie bei der Bekämpfung von großen Problemen hinterherhinkt, schlicht, weil diese nicht beherrschbar sind. Nach dem Motto: Die Politik tut schon ihr Bestes, aber mehr geht halt nicht …
Wenn man weiß, dass die Welt überkomplex ist, darf man aber auch nicht so tun, als ob man die Lage im Griff hätte, und die Menschen in Sicherheit wiegen. Wer das jetzt vor der Bundestagswahl behauptet, sagt schon die Unwahrheit. Um die Überkomplexität zu reduzieren, werden wir künftig versuchen müssen, Experten in die Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen – eine einfache Beratung reicht nicht mehr. Das kann gern demokratisch abgesichert werden.
Ist die Demokratie als Staatsform denn all dem, über das wir gerade sprechen, noch gewachsen? Ist die Demokratie die passende Antwort auf die Globalisierung? Was wir bei der Bekämpfung der Pandemie vonseiten des Staates erlebt haben, hatte schon autoritäre Züge … Wir haben Corona nur in den Griff bekommen, weil die Regierung uns Bürgerinnen und Bürgern Freiheitsrechte weggenommen hat. Also: Ist die Demokratie den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen?
Das ist eine sehr gute Frage. Wir müssen unsere Verfassung auf den Prüfstand stellen, wie wir die Sicherheit unserer Demokratie und die Sicherheit von Staaten und Bürgern gleichzeitig gewährleisten können. Das ist nicht einfach. Und was machen wir im Moment? Wir vergrößern ununterbrochen den Bundestag, was dazu führt, dass die Zahl der Entscheidungsträger in Deutschland weiter steigt. Man muss sich wirklich fragen, ob die Gewaltenteilung so, wie wir sie bisher kennen, auch künftig funktionieren wird. Fakt ist, dass die Legislative nicht absehen kann, welche Folgen die von ihr beschlossenen Gesetze haben werden. Und für die Exekutive, also die Regierungen, müssen wir entscheiden, ob sie mehr oder weniger Befugnisse braucht. Es sind grundsätzliche Fragen zu stellen, weil eines vollkommen klar ist: So wie bisher geht es nicht weiter. Wir stehen vor weitreichenden Ereignissen, für die es keine Vorsorge gibt, denken Sie nur an den Klimawandel. Wir müssen endlich aufhören, wie Kinder zu glauben, dass bei uns alles so bleibt, wie es ist. Das ist vorbei.
Ich sehe noch ein weiteres Problem. Demokratie braucht Zeit, man muss alle mitnehmen und alle anhören, um Entscheidungen möglichst breit zu legitimieren. Aber genau diese Zeit haben wir in vielen Fragen und bei vielen Problemen nicht mehr. Das heißt: Müssen wir wie die Amerikaner die Exekutive stärken, damit etwa die Kanzlerin schneller entscheiden kann? In der Afghanistan-Frage hat genau das gefehlt.
Ein Kernproblem unserer Demokratie ist der Verrechtlichungsprozess, der unendlich viel Zeit kostet und einen Teil der Aufgaben, die eigentlich im Bereich der Exekutive liegt, zur Judikative verlagert – was nicht in Ordnung ist.
Was heißt das? Müssen wir den Einfluss der Judikative zugunsten der Exekutive zurückschrauben? Denn Sie haben ja recht: Jeder, der eine politische Entscheidung treffen will oder muss, wird sich erst einmal absichern, ob das rechtlich alles sauber ist. Und dadurch können sich Entscheidungen lange, teilweise sehr lange verzögern, manchmal bis zu einem Punkt, an dem sich die Grundlagen dafür schon wieder geändert haben.
In der kleinen Welt, die ich hier an der Universität überblicke, ist das bereits so. Das Erste, was sie in einer Leitungsfunktion stellen, wenn jemand etwas möchte, ist die Frage nach der Rechtslage. Das meiste geben Sie zur Prüfung sofort an die Rechtsabteilung, was den Entscheidungsraum einschränkt.
Aber all das haben wir damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, bewusst so gewollt, weil verhindert werden sollte, dass jemals wieder ein einzelner Mensch in Deutschland zu viel politische Macht hat. Und heute haben wir die Gewaltenteilung so perfektioniert, dass wir bei vielen wichtigen und sehr wichtigen Fragen nur eingeschränkt handlungsfähig sind. Müssen wir deshalb das ganze Prinzip überdenken?
Wir müssen uns klar werden, dass es Lagen gibt, in denen nicht gehandelt werden kann wie eh und je, sondern in der aus der Reihe getanzt werden muss. So, wie Helmut Schmidt es als Hamburger Innensenator während der Flut 1962 getan hat, als er Dinge anordnete, die er gar nicht hätte anordnen dürfen, um damit Menschenleben zu retten.
Das traut sich doch heute keiner mehr. Man braucht sehr viel Mut, um zu sagen: Wir machen das jetzt so, egal, was da kommt. Lieber auf Nummer sicher gehen, als im Zweifel die eigene Karriere zu gefährden.
Deshalb wird Vorsorge auf politischer Ebene immer wichtiger, dafür kann man sich auch Zeit lassen. Hätte Deutschland vor gut zehn Jahren auf das Robert-Koch-Institut gehört, das bereits damals vor einer Pandemie wie der aktuellen warnte, hätten wir in den vergangenen Monaten deutlich weniger Probleme gehabt. Leider machen wir in vielen Fällen, siehe Afghanistan, nur noch Nachsorge. Wir müssen mehr Fantasie entwickeln, was uns alles passieren kann, um dafür entsprechende Strategien und Maßnahmen vorzubereiten. Das hat unsere Politik leider aus den Augen verloren.