Hamburg. Egils Levits spricht über Lage in seinem Land, die russische Minderheit und was Lettland in Sachen Abhängigkeit Deutschland voraus hat.
Während Deutschland seit Beginn des Krieges in Europa nach Lösungen für die Abhängigkeit von russischem Gas sucht, hat Lettland seine Versorgung bereits Anfang April umgestellt. Das Abendblatt sprach mit Staatspräsident Egils Levits, der selbst in Hamburg studierte, über die Situation in seinem Land.
Hamburger Abendblatt: Herr Levits, wie geht es Ihrem Land mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine?
Egils Levits: Lettland steht wie alle anderen europäischen Staaten auf der Seite der Ukraine. Wir helfen militärisch und politisch. Wir haben ein Drittel unsers bisherigen Militärhaushalts an die Ukraine gespendet. Wir unterstützten auch den Annäherungsprozess der Ukraine an die Europäische Union und treten für mehr Militärhilfe durch die Mitgliedstaaten der Nato ein.
Die demokratische Welt muss der Ukraine gegen einen völkerrechtswidrigen Angriff helfen– das ist unsere Pflicht. Wenn wir eine solche Aggression tolerieren, ist das eine Einladung an Russland und andere autokratische, aggressive Staaten, die Weltfriedensordnung zu liquidieren.
Krieg in Europa: Die Preise steigen auch in Lettland
Welche weiteren Auswirkungen hat der Krieg auf Ihr Land und Ihre Bevölkerung?
Levits: Dieselben Probleme wie überall in Europa: Die Inflation ist beträchtlich. Wir mussten uns auch umorientieren, weg vom russischen Gas. Seit April wird das nicht mehr eingekauft. Und wir sehen, dass es mit LNG (Anmerkung d. Redaktion: Flüssigerdgas) Alternativen dazu gibt.
Sie hatten bis Anfang April noch 98 Prozent Ihres Erdgases aus Russland bezogen. Wie haben Sie den Ausstieg so schnell geschafft?
Levits: Wir haben ein sehr großes Lager für Gas, das bis zum Herbst reicht. Durch LNG-Lieferungen wird dann neues Gas für den nächsten Winter eingekauft. Im Mai haben Litauen, Polen und Lettland außerdem eine neue Gasleitung eröffnet, um mit dem Netz in Europa verbunden zu sein.
Sie hat der Beginn des Krieges nicht überrascht – anders als Beobachter in Deutschland. Schon 2014 bei der Annexion der Krim warnten Sie und Ihre Nachbarländer vor einer Eskalation durch Russland. Was hätten Sie von Deutschland nach der Annexion erwartet?
Levits: Wenn man damals fester entgegengetreten wäre, dann gäbe es den Krieg heute nicht. Man kann mit Appeasement-Politik eine aggressive Ideologie nicht eingrenzen. Das haben Europa und die Welt schon 1939 gesehen, als die Tschechoslowakei Nazideutschland überlassen wurde, in der Hoffnung, einen Krieg zu vermeiden. Das hat sich wiederholt. Man kann die Geschichte nicht ändern, aber man kann jetzt eine richtige Politik für die Zukunft machen.
Lettland konzentriert sich auf Verteidigungsstrategie
Bereits im Februar erhielten Ihr Land, Litauen und Estland personelle Verstärkung durch das deutsche, kanadische und britische Militär. „Wenn die Ukraine heute fällt, steht Putin morgen vor unserer Tür“, sagte Litauens Staatspräsident Gitanas Nausėda kurz nach Beginn des Krieges.
Levits: Ganz Europa ist durch eine solche Aggression bedroht. Natürlich müssen die Nato und die europäische Union sich dem stellen. Beim Gipfeltreffen in Madrid Ende Juni wird eine neue Verteidigungsstrategie verabschiedet werden. Lettland und andere Staaten arbeiten sehr aktiv an dieser neuen Strategie.
Diese geht von der Tatsache eines aggressiven Russlands aus. Durch Verstärkung in der Nato-Ostflanke muss Stärke gewährleistet und gezeigt werden. Es ist wichtig, dass Russland von vornherein weiß, dass jeglicher Angriff auf einen Nato-Mitgliedstaat erfolglos sein wird.
Wie groß ist Ihre Angst vor einem Angriff durch Russland oder sogar um die Unabhängigkeit Lettlands?
Levits: Russland greift dort an, wo es meint, auf keinen starken Widerstand zu treffen. Alle Nato-Staaten sind bereit, sich zusammen zu verteidigen. Insofern ist ein russischer Angriff sinnlos. Aber wir müssen, um Russland nicht in Versuchung zu führen, diese Stärke aufrechterhalten und erhöhen. Auch die politische Einigkeit ist sehr wichtig.
Pro-russische Minderheit in Lettland
In Lettland gibt es eine große russischsprachige Gemeinschaft. Jeder Vierte hat einen russischen Hintergrund. Wegen des Krieges wurden dieses Jahr die Feiern zum 9. Mai abgesagt, für die Entscheidung gab es Kritik. Wie geht es den Menschen in Ihrem Land mit der Situation?
Levits: Die große Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung ist integriert. Aber es gibt innerhalb der russischsprachigen Minderheit eine Minderheit, die geistig in Russland lebt und den Krieg unterstützt. Eine solche Minderheit gibt es überall, wo Russen leben, zum Beispiel auch in Berlin.
Ist die Bevölkerung mit russischem Hintergrund in Lettland gespalten?
Levits: Es gibt innerhalb der Minderheit vielleicht zehn, fünfzehn Prozent, die auf Putins Seite sind. Zahlenmäßig gibt es in Deutschland aber viel mehr Unterstützer für Putins Krieg als in Lettland.
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In Lettland gibt es unter anderem Unterricht auf Russisch und russischsprachige Medien. Wirkt sich das auch auf die Versorgung von ukrainischen Geflüchteten im Alltag aus? Oder hilft es eher, dass man russischsprachige Einrichtungen im Land hat?
Levits: Die meisten Ukrainer wollen in Lettland kein Russisch sprechen. Sie sind sehr froh, dass sie hier Zuflucht gefunden haben. Die meisten wollen auch nicht länger bleiben als notwendig. Und die Kinder gehen in die lettischsprachigen Schulen.
Der Krieg überschattet andere, auch positive Ereignisse. Kürzlich besuchten Sie Hamburg, in Kiel wurden Sie für Verdienste um die rechtliche Ordnung gewürdigt. Mit Schleswig-Holstein wollen Sie künftig enger zusammenarbeiten. Wie soll das genau aussehen?
Levits: Die Covid-Krise und die Krise durch den Krieg gegen die Ukraine zeigen, dass zu lange Lieferketten verletzlich sind. Eine vorausschauende Wirtschaftspolitik bedeutet, dort, wo es möglich ist, die Lieferketten zu verkürzen. Also auch enger wirtschaftlich mit Nachbarstaaten und nahe gelegenen Staaten zusammenzuarbeiten, wo gemeinsame Rechtsstaatlichkeitsvorstellungen herrschen.
Wir sprachen auch über eine Zusammenarbeit der Universität Lübeck und einer medizinischen Universität in Riga. Zwischen Lettland und Norddeutschland gibt es viele Potenziale für Zusammenarbeit.